Lesezeit 21 Min
Philosophie

„Ich würde bezweifeln, dass wir Menschen grundsätzlich als Vernunftwesen unterwegs sind“

Dirk Baecker – ein Schüler Niklas Luhmanns – ist Soziologe und Managementtheoretiker. Wir sprachen mit ihm über Kommunikation, Komplexität, digitalen Wandel und die Frage, warum Dinge so geschehen, wie sie geschehen.

geralt / pixabay.com
von
Rebekka Reinhard
und
Thomas Vašek
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Philosophie

Der Ort, an dem wir Dirk Baecker treffen, liegt etwa dreieinhalb Autostunden von München entfernt. Der Weg ins Schweizer Unterengadin führt über teils kurvige Landstraßen an einer traumhaften Bergkulisse vorbei – bis zum »Hochalpinen Institut Ftan«, einer »Lebensschule für zukünftige Leader«, wie auf der Homepage der Eliteschule zu lesen ist. Hier unterrichtet der Soziologe, Ökonom und Managementtheoretiker, der sonst Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke ist, während des Sommers. Das Gespräch findet in einem Seminarraum statt. An der Tafel prangt noch Baeckers Lieblingsformel – das SpencerBrown’sche Indikationenkalkül. An der Wand hängt, in absurdem Kontrast zu dem sonst schmucklosen Raum, eine blassgrüne Schlangenhaut. Von hier aus nimmt uns der Autor zahlreicher Aufsätze zu so unterschiedlichen Themen wie Wirtschaft, Kunst oder Forschung mit auf eine intellektuelle Reise. Neben dem Mathematiker George Spencer-Brown (1923–2016) begegnen wir den Ursprüngen der Systemtheorie, den Problemen der Digitalisierung und der Bedeutung »postheroischen Managements« für heutige Unternehmen.

Hohe Luft: Wir haben uns hier versammelt, um ein Interview zu führen, also miteinander zu kommunizieren. Was wäre aus Ihrer soziologischen Sicht zu dieser Situation zu sagen?

Dirk Baecker: So eine Situation hat mindestens zwei Bedingungen, auf die man sich einlassen muss. Wir müssen eine Beziehung zueinander finden, und wir müssen Themen finden, auf die wir uns einlassen wollen. Das eine ist nicht unabhängig vom anderen zu denken. Die eine Bedingung ist die Kontaktanbahnung zwischen denen, die miteinander sprechen. Was kann man voneinander erwarten, was kann man einander zumuten, wie kann man einander behandeln, mit welcher Gesprächsbereitschaft hat man es auf der anderen Seite überhaupt zu tun? Und die andere Bedingung ist in fast allen Fällen, wo Menschen aufeinandertreffen, ein bestimmtes Wissen über den Kontext, der bestimmte Inhalte unseres Gesprächs erwartbar macht und andere nicht. In unserem Fall sitzen wir hier in den Bergen in einem ehemaligen Internat: Ich bin ein Wissenschaftler, habe Besuch vom Chefredakteur und einer Redakteurin eines angesehenen philosophischen Magazins, und man weiß, es wird um bestimmte Themen gehen und um andere nicht. Es wird beispielsweise wenig um meine Person gehen, sondern um das, was ich in der Wissenschaft tue, sicher aus einem philosophischen Blickwinkel heraus, und zwischen diesen beiden Rahmensetzungen, Anbahnung einer persönlichen Kenntnis einerseits und Austesten des Kontexts andererseits wird sich unser Gespräch ansonsten unvorhersehbar – zumindest für mich unvorhersehbar, vielleicht ist das bei Ihnen anders – bewegen.

Welche Rolle spielt da die Gesellschaft? Sitzt die Gesellschaft hier mit am Tisch?

Die Gesellschaft lässt unser Gespräch zu, und sie konditioniert es. Es…

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Nr. 6/2017