Lesezeit 32 Min
Technik

Mythen der Technik*

*und warum sie nicht stimmen.

EtiAmmos / shutterstock.com
von
Niels Boeing
,
Susanne Donner
,
Veronika Szentpétery-Kessler
,
Ralph Diermann
,
Joseph Scheppach
,
Wolfgang Stieler
,
Susanne Hartwein
und
Katja Scherer
Lesezeit 32 Min
Technik

Prolog

von Niels Boeing

Hartnäckig halten sich selbst unter anerkannten Wissenschaftlern etliche Legenden zu technischen und naturwissenschaftlichen Sachverhalten. Über die Wirkung plausibler Erklärungen – auch wenn sie falsch sind.

Es ist eine Ironie der hochtechnisierten Gegenwart, dass über Technik und Wissenschaft ein dichter Nebel aus Halb- und Nichtwissen liegt. Dabei war es nie leichter, sich ihre Grundlagen anzueignen, Sachverhalte zu überprüfen oder Erklärungen für ihre Prinzipien zu finden. Stattdessen halten sich hartnäckig Mythen und Legenden.

Eine besonders schöne ist die Entstehungsgeschichte des Internets: Das US-Militär habe ein atomkriegssicheres Kommunikationssystem gebraucht. Die Übertragung von Daten in Paketen über vermittelnde Knoten statt in kontinuierlichen Signalflüssen wie beim klassischen Telefonnetz habe ein System schaffen sollen, das auch noch funktioniert, wenn Teile ausfallen. Tatsächlich wurde im Arpanet, dem Vorläufer des Internets, die Paketvermittlung eingeführt, um in den Telefonleitungen die Übertragungskapazität zu erhöhen, sie weniger störanfällig zu machen und so die Forschungsrechner von Universitäten effizienter zu verbinden (siehe Seite 78). Ein ähnlicher Mythos umrankt die Nanotechnik. Ihre Grundidee sind angeblich Nanoroboter, die eines Tages Dinge Atom für Atom zusammenbauen werden – beschrieben erstmals 1986 von dem Futuristen Eric Drexler. Auch falsch: Nanoroboter spielen für diese Technik gar keine Rolle.

Schon Anthropologen wie Claude Lévi-Strauss haben auf die Rolle des Mythos für die Erklärung unverständlicher Phänomene hingewiesen. Und wie Kulturwissenschaftler James van der Laan in seinem jüngst erschienenen Buch „Narratives of Technology“ anmerkt: „Wir können Technik inzwischen zu jenen Phänomenen zählen, die wir auf andere Weise nicht verstehen können.“ Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Wirkprinzipien sind unseren Sinnen nicht mehr unmittelbar zugänglich. Um sie nachvollziehen zu können, wäre nicht nur ein gerüttelt Maß an mathematischer Bildung nötig, es bedarf auch übersetzender Apparate, etwa Rastersondenmikroskopen und Computern, um die Struktur der atomaren Welt in Bilder umzusetzen. Weiten Teilen der Gesellschaft fehlt zudem das, was der Technikphilosoph Günter Ropohl in seiner Systemtheorie der Technik als „technologisches Gesetzeswissen“ bezeichnete. Mit diesem Begriff umschreibt er das bestmögliche Wissen über funktionale und strukturale Zusammenhänge technischer Systeme. Halbwissen dagegen bietet einen prächtigen Nährboden für Mythen.

Während die kommunikationstechnische Effizienz der Paketvermittlung nicht zum Mythos taugt, weil selbst zu kompliziert, klingt die Story, man habe sich für den Atomkrieg wappnen wollen, so plausibel, dass es sich jeder merken kann.

Im Falle der Nanotechnik leistete das National Science and Technology Council (NSTC) der USA einem Mythos Vorschub, als es 1999 seinen Report „Shaping the World Atom by Atom“ betitelte. Eigentlich sei es darum gegangen, Empfehlungen für Technologie-Investitionen zu begründen, sagt der Darmstädter Wissenschaftstheoretiker Alfred Nordmann. „Begründet werden diese durchaus vorsichtigen Empfehlungen in einer von Drexler geborgten, naturüberheblichen Sprache.“ Diese von Drexler geprägte Nanotech-Vision führte unter anderem dazu, dass die Nanotechnik zumindest in Teilen als bedrohlich angesehen wurde. Dabei sind ihre realen Werkzeuge wie die Rastersondenmikroskope höchst nützlich.

Aber auch die Medien haben ihren Anteil. Schlagzeilen macht, was neu und möglichst kontrovers ist. Stellen sich die Fakten später als falsch heraus, ist das meist keine Nachricht mehr. Die überfällige Korrektur eines modernen Mythos bleibt schlichtweg aus. 1998 etwa stellte der britische Arzt Andrew Wakefield in einer Studie einen Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus her. Das renommierte Medizinjournal „The Lancet“ publizierte sie. Aber andere Forscher konnten das Ergebnis nie bestätigen. 2010 zog „The Lancet“ Wakefields Paper zurück. Aber bis der Mythos aus der Welt ist, wird es wohl noch einmal ebenso lange dauern.

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Nr. 3/2017