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Wie der Terror in ihr Leben kam

30 Jahre verdrängte IS-Expertin Jessica Stern, dass sie als Teenager vergewaltigt worden war. Bis man ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte – und sie endlich verstand, warum gewalttätige Männer sie so faszinierten

LINELLE DEUNK
von
Edwin Oden
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Ein vorsichtiges Lächeln umspielt ihren Mund, sie sieht mich aufmerksam an. Wir reden schon eine Weile, als die 59-Jährige unvermittelt sagt, dass sie etwas loswerden muss. „Ich bin so erleichtert, dass Sie keine hellblauen Augen haben“, sagt Jessica Stern dann, „die hatte er nämlich. Es mag zwar über 40 Jahre her sein, aber ich kann noch immer nicht in hellblaue Männeraugen schauen.“ „Wie schlimm für Sie“, presse ich hervor. „Ja, aber es ist auch ein gutes Zeichen, dass ich jetzt darüber reden kann. Ich bin froh, dass ich endlich spüre, was diese Vergewaltigung in mir angerichtet hat.“

Jessica Stern wirkt von außen betrachtet wie das, was man in Amerika einen tough cookie nennt, eine Frau, die hart im Nehmen ist. Die Terrorismus-Expertin trifft sich mit Dschihadisten, um sie zu ihren Motiven zu befragen, reist dazu immer dahin, wo es gerade besonders gefährlich ist. Für ihr neues Buch ISIS: The State of Terror fühlte sie sich in die brutale Ideologie des IS hinein, zeigte auf, wie die Terroristen Menschen manipulieren und mit unseren Gefühlen spielen. Man wäre wohl nie auf die Idee gekommen, dass Sterns eigenes Gefühlsleben mehr als 30 Jahre lang so gut wie ausgeschaltet war. Dass sie erst seit 2003 wieder lernt, was Angst ist, wie sich Schmerz anfühlt, Trauer, aber auch pure Freude. Denn nach diesem einen Montagabend, dem 1. Oktober 1973 – dem Abend, der für immer einen anderen Menschen aus ihr machen sollte –, hatte sie sich ihr halbes Leben lang selbst…

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Nr. 6/2017