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„Ich beschloss, ein Leben zu retten: meins, hier und jetzt“

Edith Eva Eger (90) war 16, als sie deportiert wurde. Sie und ihre Schwester überlebten das KZ, ihre Eltern nicht. Erst viele Jahre später, bei einem Besuch in Auschwitz, wurde Edith klar, dass sie sich nicht mehr für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlen will

von
Edwin Oden
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Es überfällt mich aus heiterem Himmel. Wenn eine Sirene losheult, ich irgendwo Stacheldraht sehe, schwere Schritte hinter mir höre oder schreiende Männer. Dieses Gefühl des Schwindels, der Angst. Im Bauch fühle ich dann, dass irgendetwas total falsch läuft, dass etwas Schreckliches passieren wird.

Ich bin jetzt 90. Es ist schon mehr als 70 Jahre her – und doch immer noch da, in Momenten, in denen ich es am wenigsten erwarte: auf dem Weg zum Supermarkt, beim Spielen mit meinen Urenkeln, Schauen der Nachrichten. Betrachte ich das Bild, das tief in mir vergraben ist, sehe ich drei erschöpfte Frauen in dunklen Wollmänteln. Untergehakt stehen sie in einer langen Reihe: meine Schwester Magda, Mutter und ich, fest aneinandergedrückt. Es ist staubig an den Toren von Auschwitz. Unsere Schuhe sind schmutzig, unsere Mantelsäume auch. Wir wissen nicht oder wollen nicht wissen, dass dies unser letzter Augenblick zu dritt sein wird.

Ihre Hand nicht ergriffen

1944. Die Soldaten kamen mitten in der Nacht zu unserem Haus im tschechischen Košice. Sie hämmerten an die Tür, stürmten in unsere Schlafzimmer, schrien, dass wir ungarischen Juden nicht hierhergehörten und „irgendwo anders“ hingebracht würden. Meine Mutter, praktisch veranlagt wie immer, rannte in die Küche, raffte schnell ein paar Töpfe und Pfannen, ein wenig Mehl und Hühnerfett zusammen – Nahrungsmittel, mit denen sie uns, wie sich später zeigte, zwei Wochen am Leben halten sollte. Mein Vater, der Träumer, lief planlos hin und her. Ich sah, wie er seine geliebten Bücher und Kerzenständer in die Hand nahm und immer wieder…

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Nr. 3/2018