Lesezeit 18 Min
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Die Riesen am Meer

Sequoia Sempervirens, der Küstenmammutbaum, braucht den Ozean zum Leben

By Allie_Caulfield from Germany [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
von
Zora del Buono
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Wenn der Nebel die Klippen umarmt und die Berge hinaufkriecht, sich durch den Wald schleicht und die Bäume umschmeichelt, wenn es plötzlich kühl wird und die Haut feucht und die Baumstämme auch, wenn die Strahlen der Sonne gebrochen werden im milchigen Licht und die Kronen der alten Mammutbäume so weit entfernt scheinen, als gehörten sie zu einer anderen Welt, wenn alles stiller wird, gedämpfter und konzentrierter, sodass das Ohr das feine Ploppen der Wassertröpfchen, die auf Nadeln, Blätter und Rinden niedergehen, wahrzunehmen meint, kommen unweigerlich zwei der ganz großen Wörter auf einen zugeschwebt, als würden sie vom Nebel getragen: Ehrfurcht und Demut. Von Ehrfurcht und Demut spricht jeder, der hier ist, irgendwann. Das Betreten dieser Wälder, gebaut aus gewaltigen Bäumen, die seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden dastehen, verändert den Menschen. Heute so wie früher. Und je länger man durchs Unterholz stapft, den Kopf in den Nacken gelegt, bis einem schwindelt, desto klarer wird: Das Verändernde ist, dass man sich unbedeutend und klein und gleichzeitig als Teil von etwas Grö­ßerem fühlt und somit selbst wächst. Alles dreht sich hier um Dimension. Um Raum und Zeit. Kümmern wir uns also um Raum und Zeit. Betrachten wir Sequoia sempervirens.

Eine Annäherung in viereinhalb Kapiteln.

Raum: Westküste Nordamerikas
Zeit: Nach der letzten Eiszeit bis zum 10. Oktober 1769

Noch unbehelligt von den Zumutungen der Europäer leben in der Region zwischen Sierra Nevada und Pazifik etwa 300 000 Menschen in kleinen Stammesgruppen. Nach der letzten Eiszeit vor rund 11 000 Jahren sind ihre Vorfahren über die Beringstraße auf den nordamerikanischen Kontinent eingewandert, wann genau, ist umstritten. Sie jagen und fischen, Lachs und Regenbogenforellen meistens, vor allem aber sammeln sie, neben Beeren, Wurzeln und Nüssen auch Eicheln, die zu Mehl verarbeitet werden. Das Klima ist mild, Meer und Flüsse sind reich an Fisch, das Hinterland prallvoll mit Wild und essbaren Pflanzen, die Wälder ein unerschöpfliches Baustoff- und Brennholzreservoir. Die Menschen werden von der Natur üppig beschenkt, es reicht für viele, weltweit kann keine andere Jäger-und-Sammler-Gesellschaft eine so hohe Bevölkerungsdichte aufweisen. Ein Kulturmuster hat sich herausgebildet, einzelne Stämme haben darüber hinaus typische Fertigkeiten entwickelt, der Umgebung entsprechend. Die Yurok zum Beispiel.…

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No. 124, Oktober/November 2017