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Kultur

Das Denkmal der Läuferin

Was für ein atemloser Text von Ulrike Draesner, was für eine ungeheure Strecke legt diese Getriebene im Denkmal der Läuferin hin, um vorgeblich die Kunst des Laufens wiederzubeleben. Sie meint das Leben. Und man ist geneigt, dieser deutschen Forrest Gump ein Bein stellen zu wollen, nur um sie am Auslaufen hindern zu wollen. Keine Chance: Monströs. Groß und enorm schnell erzählt.

SUSANNE SCHLEYER
von
Ulrike Draesner
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Kultur

Ulrike Draesner

1962 in München geboren. Um sich dem Schreiben widmen zu können, kündigte sie ihre Universitätsstelle. 1995 erschien ihr erstes Buch, der Gedichtband gedächtnisschleifen. Seit 1996 lebt sie als Dichterin, Prosaautorin und Essayistin in Berlin. Laut dem Magazin ‚Brigitte‘ ist Ulrike Draesner eine der besten deutschsprachigen Schriftstellerinnen. www.draesner.de

Es ist in den letzten Jahrzehnten einfacher geworden, eine Sucht zu verstecken.

In besonderem Maß gilt dies für die Laufsucht. Die Laufsucht verdankt den letzten Jahrzehnten alles.

Zuvor war sie so gut wie undenkbar. Man wanderte und trug Schuhwerk. Ein Laufsüchtiger wurde bestaunt; Spaziergänger versammelten sich in den frisch gegründeten Parks und schickten ihn zwischen sich im Kreis hin und her. Gern wies man dem Süchtigen einen ungeteerten, kiesigbrüchigen Weg an, um das Laufen ein wenig zu erschweren, und doch lief der Mann, es waren immer Männer, seine Runden. Der Zuschauer wegen wählten die Ausführenden stets Sommertage, wenn auch nicht zu heiß, und es gab Veranstalter, die besonders verdiente Dauerläufer in Sonntags-Shows präsentierten. Angenehm erwärmt stand das Publikum in der Sonne, unter Hüten und Schirmen bei zwitschernden Vögeln, kaum gestört vom Bellen einiger weniger, wohlerzogener Hunde, schloss Wetten ab und wusste das Muskelspiel unter einem Hemd, das immerhin die Arme freigab, sowie einer kurzen und immer kürzeren Hose, wusste die braune Haut, kaffeefarbene Haut, manchmal ganz schwarze Haut des Läufers mit Entzücken (so die reichlich vertretenen Damen) und interesselosem Wohlgefallen (so die damaligen Männer, denen derartig geformte menschliche Körper fremd, aber nicht unangenehm waren, da sie sie nichts angingen) zu genießen.

Danach saß man zuhause mit einem Lächeln auf den Lippen, als hätte man selbst ein wenig geschwitzt.

Allmählich wurde die Kunst der Läufer erkannt.

Das kam allen zugute. Mit Eifer warf die Industrie sich auf den Schuh- und Bekleidungsmarkt. Immer schon hatte es im Land geschickte Tüftler gegeben, sie probierten sogleich am eigenen Leib, wie Füße schwollen, Kniegelenke scheuerten; es dauerte nicht lange, da wurden die guten Effekte des Laufens für die Gemeinheit offiziell festgestellt und im endlich ausreichend entwickelten Fernsehen propagiert.

Die nächste Generation bereitete den eigenen Nachwuchs bereits im Kleinkindalter aufs Laufen vor. Kaum konnten die Babys sitzen, betrachteten sie aus dem Kinderwagen die Joggenden. Besonders fortschrittliche Eltern joggten selbst mit dem Wagen, einem eigens zu diesem Zweck entwickelten, dreirädrigen Modell, so dass das Kind, auch falls es lag, Laufbewegungen mit seinen noch nicht voll fokussierfähigen Augen wenigstens als Grundmuster einspeichern konnte.

Natürlich wusste die Läuferin von diesen Entwicklungen.

Da jedoch niemand ihrer engsten Umgebung etwas vom Geschehen der Parks verstand, fast dachte sie „vom wirklichen Leben“, lächelte sie nur aufs freundlichste. Sie sagte, ihr gehe es gut, sie sei fit. Damals gab sie bereits Interviews. Vor allem wollte man…

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No. 14