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Kultur

Die geschenkte Stunde

Was passiert in einer Stunde, die es eigentlich nicht gibt? Alles! Man verfolgt Engel, trifft auf schreiende Hunde und schläft en passant mit Künstlern, die eigentlich schon tot sein sollten. Am Ende dieser unwirklichen Begegnungen wünscht sich Juli Zehs Protagonistin für ihre geschenkte Stunde lediglich eines: Schlaf!

WOJTEK SADZIK
von
Juli Zeh
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Kultur

Juli Zeh

wurde in Bonn geboren. Sie studierte Jura und Literatur. Alleine ihr erster Roman „Adler und Engel“ ist in 29 Sprachen übersetzt. 2009 ist ihr Roman „Corpus delicti“ erschienen, einer von vielen. Mehr Informationen über Juli Zeh finden sich unter www.schoeffling.de.

Bei Magdeburg wird mein Wagen zwischen den Fahrbahnen hin und her getrieben, als hätte er kein Gewicht. Mit angespannten Armen halte ich das Lenkrad wie ein Sportgerät und spüre die eigene Sterblichkeit im ganzen Körper. Regen und Spritzwasser der Fahrzeuge vor mir verwandeln die Autobahn in einen Kanal aus tobender Gischt, in der Rücklichter als schwache rote Punkte schlingern.

Endlich, ein Schild entlässt mich aus „thueringen.de“, und kurz nach der bayrischen Grenze hört der Regen auf. Durch das Beifahrerfenster beobachte ich die letzten Minuten des Tages, einen Himmel mit Goldschnitt am Rand. Ich bin dem Unwetter davongefahren, und wenn es mich einholt, liege ich längst im Bett und merke nichts. Falls ich einschlafen kann.

Schnell fällt die Dunkelheit, Bäume rücken zusammen, Wolken robben über den schwarzen Himmel Richtung Süden. Als in einer Kurve meine Scheinwerfer den Waldrand streifen, werfen die Wipfel eine Handvoll Vögel in die Luft. Ab und zu tanzen die glühenden Reste einer Zigarette vor mir auf dem Asphalt. Eigentlich mag ich Lichter, die sich bei Nacht bewegen, Autos, Züge, Flugzeuge, Straßenbahnen – Hauptsache, es ist dunkel und sie bewegen sich.

Als ich den neuen Job annahm, warnte mein Vorgänger vor dem Reisen: Gerade du, sagte er, als Frau. Ich lachte ihn aus. Es war leicht, ihm nicht zu glauben, er hatte Familie. Was war wohl zuerst da, das Reisen oder die Einsamkeit? Es gibt Tage, da möchte ich alle Fragen mit meinem eigenen Namen beantworten.

Jedes Mal überrascht es mich, die Stadt noch vorzufinden. Sie liegt im Einschlagkrater eines Meteoriten, am flachen Grund des Trichters, eingefasst von einem regelmäßigen Hügelkranz. Bei Tag sieht man von der Autobahn, dass die Landschaft die Gestalt einer Wasseroberfläche hat, in die gerade ein Stein gefallen ist, eine Momentaufnahme, bevor die Ränder der Öffnung wieder aufeinandertreffen, ein dünner Spritzer hochsteigt in der Mitte und der erste Wellenkranz sich in Ringen auszubreiten beginnt. Bei Nacht, wenn ich von einer Reise zurückkehre, fürchte ich immer, die Kraterränder könnten sich inzwischen geschlossen haben. Die Hügel wären in konzentrischen Wellen auseinandergelaufen und das Erdreich hätte sich geglättet über einer Stadt, die mitten in ein planetarisches Plumpsen hineingebaut wurde. Wenn ich ihre Lichter sehe im Tal, bin ich erleichtert. Obwohl sie mir fremd geblieben ist wie irgendeine Stadt auf der Welt.

Die Bürgersteige sind voller Menschen. Unmöglich können die alle wegen GK auf den Beinen sein. Den Tag über habe ich es auf jedem Sender gehört: Das berühmte Schriftstellerphantom GK, Mann, Frau oder Kollektiv, zeigt sich erstmals der Öffentlichkeit. Und das in seiner Heimatstadt. Vielleicht hat sich das Ereignis zu einem Volksfest ausgewachsen. Die Menschen bewegen sich unbekümmert im Laternenlicht und ignorieren die Nacht oberhalb der Dächer, wo alles schwarz ist, als stünden wir schon kurz vor Mitternacht, am Eingang jener Stunden, in denen man die Welt nicht betrachten, sondern im Bett liegen soll, mit fest verschlossenen Augen. Heute Nacht, meldete das Radio seit Magdeburg, werden die Uhren umgestellt.

Im Auto vor mir sitzt ein Paar, das sich an jeder Ampel küsst und nicht losfährt bei Grün, wir kommen nur langsam voran.

Dicht vor meiner Motorhaube überquert ein Mädchen die Straße, das…

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