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Kultur

Klagenfurt

Eigentlich ist es unmöglich, sich an einer Tür zu erhängen, wenn man leben will. Der Urgroßvater von Sandberg hat es 1957 getan. Und Sandberg selbst, wird er in „Klagenfurt“ auch aus dem Leben ausbrechen? Ein halb getrunkenes Glas steht kaum perlend vor ihm auf dem Tisch, während sich Sandberg immer mehr in der Einsamkeit einrichtet.

STEPHANIE WUNDERLICH
von
Jan Drees
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Kultur

Jan Drees

(Jahrgang 1979) berichtet für Radio (Bayern 2, Deutschlandradio Kultur), Zeitungen (Der Freitag), Magazine (Rolling Stone) über Literatur. Er ist Stipendiat der „Graduate School Practices of Literature in Münster“ und nutzt seine Nächte für eine Dissertation über den Novellenautor Hartmut Lange.
Blog: www.lesenmitlinks.de

Kristian Sandbergs Kopf war leicht geneigt und mit geschlossenen Augen saß er erschöpft im Gastgarten des Café Morle am Klagenfurter Lendkanal. Ein halb getrunkenes Glas Sodawasser stand kaum perlend vor ihm auf dem Tisch. Seine bleichen Arme hingen schlaff seitlich der Lehnen, und nachdem Tina von der fast menschenleeren Stadt her kommend auf ihren Freund zugegangen war, blieb sie für einen Augenblick auf dem leicht abschüssigen Kies stehen und schaute von jenem hüfthohen Gatter aus herüber, das den überdachten Gastbereich zum Weg hin abgrenzte. Sie hielt eine in roten und gelben Farben gearbeitete Mochilla-Tasche in der linken Hand und hatte den üblicherweise über eine Schulter zu tragenden Riemen in zwei Schlaufen um ihren Unterarm gewickelt.

Seit zirka acht Monaten waren sie zusammen, wobei sie den genauen Beginn ihrer Beziehung nicht angeben konnten, weil sich beide in Partnerschaften befunden hatten, als sie das erste Mal einander begegnet waren, auf eine sehr gewöhnliche Weise. Tina hatte sich, nachdem sie ihren Freund am Bahnsteig verabschiedet hatte im ICE neben Sandberg gesetzt und wie endgültig dieser Abschied am Ende sein würde war Anlass der immer gleichen Erzählung.

Er war 29, sie 26 Jahre alt, beide Studierende der Philosophie und der Literaturwissenschaften. Im Semester sahen sie sich nur gelegentlich, da zwischen ihnen eine längere, mit dem Zug zu bewältigende Strecke stand. Man hatte eine täglich einzuhaltende Telefonzeit verabredet, zu der sie am späteren Abend, jeder in seinem Bett liegend, die Ereignisse der zurückliegenden Stunden austauschten oder aber gemeinsam „Monkey Island“ auf dem iPhone spielten, indem einer von ihnen das Programm vor sich, der andere durch Walkthroughs auf YouTube erläuterte, welche Frage nun zu stellen, welcher Weg zu gehen sei. Es waren Verabredungen, wie sie Paare in Fernbeziehungen immer wieder treffen. Sandberg lebte im Bergischen. Er wollte vor Ende seines Studiums keinesfalls umziehen. Dass aber Tina ihren Lebensmittelpunkt aus der Groß- in die Kleinstadt verlegen würde, hatte nie zur Diskussion gestanden.

Ihre Reise an den Wörthersee war der erste gemeinsame Urlaub und während Sandberg die Gegend seit langem kannte, mit einer früheren Freundin war er gelegentlich hierhin gefahren, bewegte sie sich das erste Mal überhaupt in der Kärntner Landschaft mit den leicht ins Blaue ansteigenden Bergen.

Sie waren gestern am späteren Abend angereist, hatten die gemeinsame Zugfahrt mit mehreren Umstiegen gewagt und in München eine Pause…

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