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Philosophie

Erzähle dich neu

Selbstsuche, Selbstoptimierung - Alle Welt beschäftigt sich mit sich selbst. Aber was ist das eigentlich, womit man sich da beschäftigt? Kann man es wirklich verändern? Ja. Aber anders als gedacht

Gajus/shutterstock.com
von
Tobias Hürter
und
Thomas Vašek
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Philosophie

»Wahr ist das Meer, wahr ist das Gebirge, wahr der Stein, wahr der Grashalm – aber der Mensch? Er ist immer maskiert, auch wenn er es nicht will und nicht weiß.«

Luigi Pirandello (1867–1936)

Miley Cyrus ist nicht wiederzuerkennen. Vor ein paar Jahren noch war sie ein süßes, schüchternes Kindersternchen. Jetzt ist sie eine Sexbombe, die auf der Bühne wild mit dem Hintern »twerkt« und in Videos nackt auf einer Abrissbirne sitzt. Die misstrauische Deutung ist, dass hinter dieser Veränderung eine kalkulierte Anpassung ihres Geschäftsmodells steckt. Sie ist zu alt geworden, um noch süß zu sein, also gibt sie sich stattdessen sexy. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ist sie wirklich ein anderer Mensch geworden.

EIN ANDERER MENSCH WERDEN: ein wenig Sehnsucht danach hegen wohl alle Menschen. Ein bisschen klüger, ein bisschen witziger, ein bisschen schöner, ein bisschen athletischer – jedenfalls glücklicher. »Traurig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein könnte«, schrieb der Dichter Friedrich Hebbel im 19. Jahrhundert. Könnten wir wirklich? Ja klar, ganz bestimmt – wenn nur nicht die Bedingungen gerade leider etwas ungünstig wären. Aber der Volksmund sagt: Menschen ändern sich nicht. Miley Cyrus mag sich luftiger kleiden, aber drinnen ist sie dieselbe geblieben.

Arbeite an dir, verändere dich! Dieser Imperativ gehört zum Kern unserer Kultur. Heute spricht man von Selbstperfektionierung, man müht sich täglich, den Geist zu schärfen und den Körper zu stählen. Aber die Idee ist viel, viel älter. Die Urgeschichte dazu ist die Wandlung des brutalen Christenverfolgers Saulus zum Missionar und Kirchengründer Paulus, der schließlich selbst verfolgt wird und den Märtyrertod stirbt. Das Motiv zieht sich durch die Jahrtausende bis heute – bis zu Miley Cyrus.

Heute spiegelt sich diese Sehnsucht auch in den Titelzeilen der Magazine: Das Geek-Magazin »Wired« beschäftigt sich mit der »Zukunft des #Ich«. Das »Zeit Magazin« schreibt unter dem Titel »Die Vermessung des Ichs« über »die Sehnsucht nach dem Optimum«: »Was kann ich essen? Wann muss ich Sport machen? Und wie viel Schlaf brauche ich?« Und »Spiegel Wissen« preist das »Projekt Ich« mit »neuen Strategien für ein besseres Leben« an. Als sei dieses Ich ein Motor und es käme für ein besseres Leben nur auf das richtige Tuning an: schneller, stärker, klüger, kreativer. Aber stimmt das denn? Was ist das eigentlich, dieses »Ich« oder das »Selbst«. Wie kann man daran arbeiten? Kann man es überhaupt?

DAS...

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Nr. 2/2015