Lesezeit 18 Min
Philosophie

Worauf wir bauen können

Oder: Warum wir in haltlosen Zeiten vor allem eines brauchen – eine eigene Haltung, die uns durchs Leben navigiert.

Austin Neill / unsplash.com
von
Rebekka Reinhard
,
Thomas Vašek
und
Tobias Hürter
Lesezeit 18 Min
Philosophie

Irgendwas stimmt nicht mehr, und keiner weiß warum. Die Menschen können nicht mehr vernünftig miteinander reden, nicht mehr miteinander diskutieren. Die Flüchtlingsfrage entzweit Freundeskreise, ja ganze Familien. Man fetzt sich wegen Trump, regt sich auf über die »Eliten«, schimpft auf Merkel und die Politik. Und jeder glaubt, es besser zu wissen als der andere. Auf Facebook herrscht mittlerweile ein Erregungs- und Empörungspegel, der kaum noch auszuhalten ist.
Dabei gäbe es genug Gründe für ein wenig Zuversicht. Ökonomisch geht es uns gut; rund 60 Prozent sind mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden, wie eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab. Die Flüchtlingskrise scheint halbwegs im Griff zu sein, die demokratischen Verhältnisse wirken stabil, ein Phänomen Trump blieb uns bisher erspart. Die Deutschen könnten also durchaus optimistisch in die Zukunft blicken. Und doch scheint es, als wäre das Gegenteil der Fall. Überall herrschen Angst, Besorgnis und Wut. Laut Allensbach-Zahlen sieht ein Drittel der Deutschen ihr Land auf dem Weg in eine große Krise.

Irgendwas stimmt nicht mehr, irgendwas ist aus den Fugen geraten. Viele Menschen haben das Gefühl, in einer unübersichtlichen, rasend beschleunigten Welt den »Halt« zu verlieren, das meinen etwa Soziologen wie Heinz Bude oder Hartmut Rosa. Zugleich funktionieren die alten Schemata nicht mehr, nach denen man früher alles so einfach sortieren konnte.

Was ist heute schon »rechts«, was »links«? Woher weiß ich überhaupt, welche Werte die richtigen sind, was ich sagen darf und was nicht? Was verbindet uns eigentlich mit diesen Leuten, mit ihrer Religion? Werden wir nicht doch »überfremdet«? Müssen die »Deutschen« sich nicht wehren, um ihre Identität zu erhalten? So denken viele Verunsicherte. Man kann einige politische und soziale Phänomene unserer Zeit als Symptome einer starken Sehnsucht nach Halt deuten: den wiedererwachten Nationalismus, den religiösen Extremismus, die Nostalgie und die Zukunftsangst, die Wut auf »Multikulti«. Wo in dieser haltlosen Welt können Menschen noch Halt finden?

Einen wertvollen Fingerzeig auf die Antwort gab Joachim Gauck in seiner letzten Rede als Bundespräsident – mit einem einzigen Begriff. Die entscheidende Trennlinie in unserer Demokratie verlaufe nicht zwischen Alteingesessenen und Neubürgern, auch nicht zwischen den Religionen, sagte Gauck am 18. Januar.

Was zähle, das sei nicht die Herkunft – sondern die »Haltung«.

Gleich fünfmal erwähnte Gauck den…

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Nr. 3/2017