Lesezeit 16 Min
Philosophie

Den Kopf auf den Kopf stellen

Wehende Fahnen, brennende Barrikaden – so mögen Revolutionen aussehen. Ihr Kern sind sie nicht. Der wahre Umbruch findet im Kopf statt. Dann erst bahnt sich das Neue seinen Weg – und das oft plötzlich. Deshalb sind Umstürze meist chaotisch und selten gut geplant.

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von
Tobias Hürter
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Philosophie

»Rien«: Aus diesem einen Wort bestand der Tagebuch-Eintrag Ludwig XVI. am 14. Juli 1789. Nichts. Es war der vielleicht dramatischste Tag der französischen Geschichte, der Tag der Revolution. Die Aufrührer hatten die Bastille gestürmt, der König war von seinen Beratern gewarnt worden, dass da mehr als ein kleiner Aufstand im Gange sei, aber der König notierte ungerührt: nichts. Dass seine Herrschaft ein paar Monate später enden würde, mit ihr das Ancien régime seiner Väter und Vorväter – und damit die ganze Epoche der Frühen Neuzeit in Europa, wie hätte er es fassen sollen?

Mehr als in den brennenden Barrikaden, den Schüssen und den Guillotinen zeigt sich in diesem einen Wort »rien« das Wesen von Revolutionen. Sie sind radikale geistige Umwälzungen. Die einen machen mit, die anderen landen unter dem Fallbeil. Die physische Wucht, die oft mit ihnen einhergeht, ist nur das Werkzeug. Revolutionen verwirklichen, was eben noch unvorstellbar war. Sie bedeuten nicht nur eine Verschiebung innerhalb eines geistigen Bezugssystems, sondern die Errichtung eines neuen. Dazu muss das alte Bezugssystem zerstört werden. Das geht selten kampflos vonstatten. Aber es geht manchmal eben nicht anders. Die einzige andere Option wäre friedliche Stagnation.

Die Mutter aller Revolutionen war keine politische, sondern eine wissenschaftliche: der Umbruch vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, ausgelöst von Nikolaus Kopernikus. Der Domherr und Hobbyastronom im damals ostpreußischen Frauenberg, heute polnischen Frombork, beschloss im Jahr 1538 nach langem Zögern, sein Manuskript »De revolutionibus orbium coelestium« (Von den Umschwüngen der himmlischen Kreise) drucken zu lassen. Damit gab er der »Revolution« ihren Namen – mit einem astronomischen Fachausdruck. Erst später stand das Wort vor allem für politische Umstürze. Und Kopernikus war auch alles andere als der geborene Revolutionär.

Eigentlich wollte er das Weltbild der alten Griechen restaurieren und beteuerte immer wieder, das heliozentrische Weltbild sei ein rein mathematisches Gedankenspiel. Erst später verteidigten andere seine Ideen gegen alle Widerstände: Tycho Brahe, Johannes…

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Nr. 6/2017