Lesezeit 21 Min
Philosophie

Mehr Freude an der Wahl

Entscheiden ist schwierig – wäre es einfach, müsste man sich ja gar nicht entscheiden. Wie trifft man gute Entscheidungen?

Falcona / shutterstock.com
von
Tobias Hürter
,
Rebekka Reinhard
und
Thomas Vašek
Lesezeit 21 Min
Philosophie

»Merkeln« bedeutet laut Lexikon der Jugendsprache: »sich nicht genau festlegen, keine Entscheidung treffen«. Am 4. September 2015 hatte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel genug vom Merkeln. Hunderttausende Menschen waren unterwegs nach Europa, um Zuflucht vor Krieg, Vertreibung und Armut zu finden. Einige Nachbarländer schotteten sich ab. Merkel jedoch entschied sich für einen anderen Weg. Sie öffnete die Grenzen. »Wir schaffen das«, sagte die »Lethargokratin« (Peter Sloterdijk) in ungewohnter Entschlossenheit. Wie »wir« es schaffen sollen, sagte sie nicht. Sie wusste es vermutlich auch nicht, und es war in diesem Moment nicht das Wichtigste. Niemand konnte an diesem Tag absehen, wofür sie sich da entschieden hat: Wie viele Menschen kommen würden, wie Deutschland sie aufnehmen könnte. »Deutschland tut das, was moralisch und was rechtlich geboten ist«, sagte Merkel. Für eine detaillierte Abwägung der Optionen fehlten die Zeit und der Überblick.

Kann solch eine Entscheidung überhaupt richtig sein? Kann sie verantwortungsvoll getroffen worden sein? Merkels Entschluss jedenfalls wurde als »historisch« gepriesen, das New Yorker »Time«- Magazin erkor die Kanzlerin dafür zur »Person des Jahres«. Dabei war die Entscheidung gar nicht so außergewöhnlich. Jeder Mensch steht in seinem Leben vor Entscheidungen, die nicht weniger schwierig sind und für ihn keine geringere Tragweite haben. Welchen Beruf soll ich ergreifen? Werde ich mit Andi oder mit Bruno glücklich? Kinder kriegen oder nicht? Eigentlich sind wir mit solchen Entscheidungen überfordert, aus unserer Froschperspektive sind die Optionen nicht zu überblicken. Dennoch treffen wir sie, und oft gar nicht so schlecht. Wie entscheiden wir uns? Wie können wir uns richtig entscheiden? Was bedeutet es überhaupt, Entscheidungen zu treffen?

Wer sich entscheidet, vollbringt ein kleines Wunder. Aus der abstrakten Möglichkeit des Wählens wird kraft des eigenen Willens konkrete Wirklichkeit. Aber nicht irgendeine Möglichkeit wird Wirklichkeit – wie etwa durch den Wurf eines Würfels –, sondern eben die Möglichkeit, für die man sich entschieden hat. Im Entscheiden manifestiert der Wille sich in der Welt.

Auf den ersten Blick ist die Sache einfach. Man steht vor bestimmten Optionen, man hat bestimmte Ziele, man wägt Alternativen ab – und wählt die beste. Der amerikanische Staatsmann und Schriftsteller Benjamin Franklin (1706 –1790) erfand den Klassiker aller Entscheidungshilfen: die Pro-Contra-Liste. Man schreibt alle Gründe für oder gegen eine bestimmte Option auf, gewichtet sie und entscheidet sich dann für die Option, die am schwersten wiegt. Das ist das Grundprinzip des rationalen Entscheidens (rational choice).

Dahinter steckt die Annahme, dass Menschen zielgerichtet handeln, bestimmt durch ihre Präferenzen und die Tatsache, dass sie ihren »Nutzen«…

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Nr. 2/2016