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Der Knochensammler vom Blue Hole

Das Blue Hole im Roten Meer ist der berühmteste und gefährlichste Tauchplatz der Welt. Hunderte Taucher sind in dem 90 Meter tiefen Loch im Küstenriff verunglückt. Und Tarek Omar ist der berühmteste Taucher des Blue Hole. Er birgt die Leichen.

paul prescott / shutterstock.com
von
Dimitri Ladischensky
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Das Blue Hole

Was muss ein Loch haben, das einen hinunterzieht? Es muss blau sein am Anfang, verheißungsvoll, damit es einen empfängt; dahinter muss es dunkler werden, einen Abgrund bieten, denn Tiefe ohne Dunkelheit ist keine Tiefe. Es muss fremd sein, es muss Neuland sein, unerforscht, nicht zu betreten. Es muss den Reiz des Verbotenen haben; eine Linie haben, die man überschreiten kann, eine Linie, die trennt: in jene, die davor bleiben, und jene anderen, Besonderen, Außergewöhnlichen, die sie überschreiten. Man muss sich dem Tod nähern, Schritt für Schritt, man muss sie spüren, die Angst; man muss erleben, wie einem die Welt oben abhanden kommt. Es muss im übertragenen Sinn ein Taufbecken sein; die, die aus dem Loch wieder auftauchen, dürfen nicht mehr die Gleichen sein, die hinabgestiegen sind, nicht mehr dieselben Menschen sein, die sie waren.

Ein Loch wie das Blue Hole. 90 Meter tief, 50 Meter breit, ein Berg aus Wasser, auf den Kopf gestellt. Der Mount Everest der Taucher.

Das Blue Hole liegt an einer Felsenbucht, zehn Kilometer nördlich von Dahab an der Ostküste der Sinaihalbinsel am Golf von Akaba. Wer nicht tauchend die Magie des Blue Hole erleben kann, der steigt abends den Hügel hinauf, der sich über dem Blue Hole erhebt. Die roten Berge verglühen im Ascheschwarz. Die Cafés unten, die sich an die Bucht drängeln, sind menschenleer. Der Abstieg ins Blue Hole beginnt fünf Meter von den Liegestühlen am Strand entfernt. Tagsüber ist das Loch eine graue Fläche im Uferriff, und man kann sich nicht vorstellen, dass da unten Hunderte gestorben sind und noch Leichen am Grund liegen. Erst wenn das Blue Hole keine farblose Brühe mehr ist, in der Erdnusstüten schwimmen und dicke Touristen schnorcheln, erst wenn es das tiefe Nachtblau des Himmels annimmt, dann erst versteht man den Namen. Und dass es einen hinabzieht nach unten.

Oben funkeln die Sterne, und unten blinken die Leuchtfische, die kometengleich ihre Lichtschweife durch das Rund ziehen; unten der dunkle Saum, oben der dunkle Saum, Blinken hier, Blinken dort, Himmel und Erde und ein blauer Spiegel dazwischen, durch den man in den Himmel blickt.

Lichtspiel

Von unten blinkt das Blue Hole hoch, und Tarek schaut teilnahmslos in die Ferne. Er wirkt, als wäre alles um ihn herum ausgelöscht. Nichts kann ihn ablenken

Abends leuchtet das Blue Hole für die Nichttaucher und morgens für die Taucher. Wer hinabtaucht, für den wird es nicht sofort dunkler. Im Loch wird es erst blauer, das Blau wird flächig, verliert die Dimension der Tiefe, verdichtet sich zu einem blauen Nebel, bevor auch das Licht darin verschwindet. Nach 40, 50 Metern wird es heller. Das Blue Hole ist nach unten hin nicht geschlossen, ab 53 Metern öffnet sich an seiner Wand ein 30 Meter hoher Torbogen, der bis an den Grund des Blue Hole in 90 Meter Tiefe reicht. Dieser Torbogen ist der Eingang zu einem 26 Meter langen Tunnel, der zum offenen Ozean führt.

Tagsüber, wenn die Sonne im Zenit steht, ist es im Blue Hole am dunkelsten; morgens aber, wenn sie schräg aus Saudi-Arabien herüberscheint, leuchtet sie durch den Tunnel bis auf den Grund hinab und erhellt die Tiefe magisch. Mit ein…

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No. 90 - Februar/März 2012