Lesezeit 22 Min
Politik

"Das ist unser Land"

Vor mehr als 40 Jahren wurden die Bewohner der Chagosinseln im Indischen Ozean vertrieben, um Platz zu machen für eine Militärbasis der USA. Die ehemaligen Inselbewohner und ihre Nachkommen führen seither einen unermüdlichen Kampf gegen westliche Großmächte. Sie wollen ihre Heimat zurück

By Camera Operator: PH1 P.D. GOODRICH [Public domain], via Wikimedia Commons
von
Martina Wimmer
Lesezeit 22 Min
Politik

Es bedarf nicht vieler Worte, um einem Menschen, den das Schicksal in die Ferne getrieben hat, den fremden Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ein stereotyper Satz, achtlos ausgesprochen, die feindselige Logik dessen, der auf der sicheren Seite lebt: „Gehen Sie doch zurück in Ihre Heimat, wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“

Es ist dieser Satz, der in Sabrina Jean die kalte Wut hochsteigen lässt. Weil er in seiner brutalen Schlichtheit das Dilemma ihres Volkes so treffend zusammenfasst; weil sie es nicht glauben kann, dass sie, die seit 2002 einen britischen Pass besitzt, ihren offiziellen Landsleuten immer noch die Geschichte der Chagosinseln erzählen muss. Nach mehr als 50 Jahren, nach Prozessen vor den höchsten Instanzen des Vereinigten Königreichs, nach Auftritten vor den Vereinten Nationen und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nach Hoffnung weckenden Urteilen und erschütternden Niederlagen, nach all den Parlamentssitzungen, begleitet von Demonstrationen, nach preisgekrönten Dokumentarfilmen, unzähligen Zeitungsartikeln und Fernsehinterviews, nach all der prominenten Unterstützung, zuletzt in einem Protestbrief von sieben Friedensnobelpreisträgern an den scheidenden US-Präsidenten Barack Obama.

„Sie wissen nichts.“ Nicht die Nachbarn in ihrem traurigen Wohnblock, nicht die Beamten in den Behörden in Crawley, West Sussex, mit denen sie um Jobs, Wohnungen und finanzielle Hilfe ringt für die Angehörigen ihres versprengten Volkes, die in Großbritannien auf eine bessere Zukunft hoffen. Nicht die Parlamentarier in London, die in ihren Reden die Fakten verdrehen. Auch Sabrina selbst musste die Versatzstücke der Wahrheit suchen, sucht bis heute, weil ihr Vater so wenig erzählt. Der Schmerz hat ihn zum Schweigen gebracht. Sabrina sagt: „Wir können nur ahnen, wie es sich anfühlt.“ Ihr Vater wartet seit einem halben Jahrhundert auf die Rückkehr in sein Paradies. Er war 17, als das Unglück seinen Anfang nahm.

Der Kampf

Sabrina Jean, 43, ist Vorsitzende der Chagos Refugee Group in Großbritannien. Ihr Vater wurde auf der Chagosinsel Peros Banhos geboren, sie lebt mit ihrer Familie seit 2006 in Crawley

Auf halbem Weg zwischen Afrika und Indonesien, mitten im Indischen Ozean, liegt der Chagosarchipel. 64 Koralleninseln, drei davon seinerzeit bewohnt von Abkömmlingen afrikanischer Sklaven, die Ende des 18. Jahrhunderts dorthin verschifft worden waren, um für die französischen und später britischen Kolonialherren Kokosplantagen zu bestellen. Die Plantagen lieferten nach dem Ende der Sklaverei weiter Arbeit, die Natur Fische und Früchte, blühende Gärten und Sonnenschein. Etwa 2000 Menschen führten dort ein friedliches Leben. Die Welt, die Mitte des 20.  Jahrhunderts nach einem verheerenden Zweiten Weltkrieg ihr Machtgefüge neu sortierte, war ihnen selten fern. Die Älteren…

Jetzt weiterlesen für 0,64 €
No. 122, Juni/Juli 2017