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Philosophie

Die Göttin der Gelegenheit

Es gibt Chancen im Leben, die kommen nie wieder. Es gilt, sie zu ergreifen – oder nicht. In der Antike galten sie als gottgegeben. Heute versuchen wir mehr denn je, günstige Gelegenheiten selbst zu erschaffen. Eines ändert das aber nicht: Wir müssen wissen, sie zu nutzen. Ein Blick auf besondere Momente.

Francesco de' Rossi [Public domain], via Wikimedia Commons
von
Thomas Vašek
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Philosophie

»Wir standen an der Straßeneck
Wohl über eine Stunde;
Wir sprachen voller Zärtlichkeit
Von unsrem Seelenbunde.

Wir sagten uns viel hundertmal,
Dass wir einander lieben;
Wir standen an der Straßeneck,
Und sind da stehn geblieben.

Die Göttin der Gelegenheit,
Wie’n Zöfchen, flink und heiter,
Kam sie vorbei und sah uns stehn,
Und lachend ging sie weiter.«
(Heinrich Heine)

Plötzlich stand sie da. Ein flüchtiger Blick, ein zweiter Blick, ein scheues Lächeln. Ein Moment der Schwebe. Irritiert hast du zurückgeblickt, zurückgelächelt und dann doch wieder in dein Buch geschaut. Da war sie plötzlich ausgestiegen.

Ein Moment des Zögerns, und die Gelegenheit ist vorbei. Und du weißt, du wirst sie nie wiedersehen. Nie wieder. Vielleicht, ja vielleicht … Aber du wirst es nie heraus finden. Vorbei ist vorbei. Eine zufällige Begegnung, ein unverhofftes Jobangebot, ein günstiger Hauskauf: Gelegenheiten können unser Leben verändern. Ganz plötzlich tun sie sich auf, treten uns schicksalhaft gegenüber. Entweder wir »ergreifen« sie – oder eben nicht.

Die Griechen kannten zwei Gottheiten der Zeit, die eine war »Chronos«, der Gott der langen Zeit, die andere »Kairos«, der Gott des günstigen Augenblicks. Künstlerische Darstellungen zeigen ihn mit Flügelschuhen, Stirnlocken und kahlem Hinterkopf dargestellt. Gelegenheiten sind flüchtig, man muss sie »am Schopf« packen, sonst huschen sie an einem vorbei; von hinten bekommt man nur noch den kahlen Hinterkopf zu fassen.

Stets war der »Kairos« im Bunde mit den Handelnden, die die Gunst der Stunde zu nutzen vermochten. Und das musste nichts Gutes bedeuten: Bei Homer war der »Kairos« noch der günstige…

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Nr. 5/2016