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Kultur

Ins Wasser gehen

Wie kein anderer Suizid beunruhigt der Freitod im Wasser unsere Gemüter. Und wie kein anderer treibt er seit je Dichter, Schriftsteller und Künstler um. Eine kleine Kulturgeschichte der Wasserleiche.

chen / shutterstock.com
von
Zora del Buono
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Kultur

DIE WASSERLEICHE IST EINE SCHÖNE TOTE, BLASS, von entrückter Reinheit, ein elfenhaftes Wesen, engelgleich, leicht wie eine Seerose. So zeigen sie die Maler. Die Wasserleiche beschert einen grauenvollen Anblick, aufgequollen, unförmig und zerbeult, ein sich zersetzender Körper, die Haut löst sich vom Fleisch wie ein schrumpeliger Gummihandschuh, schreckliche Verfärbungen verunstalten das, was einst ein intakter Leib gewesen ist. Das wissen die Pathologen. Ins Wasser gehen ist ein friedvoller Tod, ein sanftes Hinübergleiten in die andere Welt, ein sich Auflösen, Einswerden mit den Elementen, sich dem Kreislauf des Wassers hingeben, über die Seen und Flüsse in die Meere ziehen, versinken in der angenehmen, tröstlichen Stille. Das fantasieren die Romantiker. Ertrinken ist ein brutaler Tod, denn wer ertrinkt, der erstickt. So sagen es die Mediziner.

Keine Suizidmethode ist derart emotional besetzt wie der Wassertod. Durch alle Kulturen und Zeiten hindurch gingen Menschen in ihrer Not ins Wasser, haben andere Menschen ihre Leichname gefunden, sie begraben oder auch nicht, über sie geredet, sie verachtet oder bewundert, gar Kultfiguren aus ihnen gemacht. Schon die antike Sagenwelt berichtet von Suizidenten wie Ägeus, der sich vor Kummer ins Meer stürzte, weil er seinen Sohn Theseus tot glaubte. Die Ägäis hat ihren Namen von einem Suizidenten erhalten.

„Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt“, schrieb Jean Améry 1976 in seinem Essay „Hand an sich legen“, diesem großen Text über den freiwilligen Tod, der bis heute zum Eindringlichsten gehört, was zu dem Thema geschrieben worden ist. Wer für sich die Tür zur letzten Möglichkeit einmal gedanklich aufgestoßen habe, für den sei das Leben danach ein anderes. Von Trunkenheit spricht Améry, von einem Rausch, einem selbst gewählten Freiheitserleben, der Wassertod ist ihm verlockend. „Oder Ertrinken, irgendwo an der Nordseeküste. Wasser an den Beinen, Wasser, das langsam steigt, zur Brust, über sie hinaus, an die Lippen. Der Kopf wird noch eine Weile oberhalb der Wellen bleiben wollen, voll bis zum Zerspringen von gurgelnder Flutenmusik. Bis er verschwindet, und was die Leute dann an den Strand ziehen, ist eine Sache, une chose, kein ,Ertrunkener‘, sondern ein Etwas, das mit Mensch und Ich nichts mehr zu tun hat.“

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No. 70 - Okt./Nov. 2008