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Technik

Intelligenz neu gedacht

Seit Jahren mehren sich Hinweise darauf, dass viele Tiere Probleme lösen können, die bisher bestenfalls Menschen und Menschenaffen knacken konnten. Was aussieht wie eine neue Demütigung für unsere Spezies, könnte sich als wichtiger Fortschritt für den Bau intelligenter Maschinen entpuppen.

SHUTTERSTOCK
von
Wolfgang Stieler
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Es ist noch zu früh. Die neongelbe Blüte der Nachtkerze ist fest geschlossen, aber die Hummel gibt nicht auf. Immer wieder fliegt sie die Blüte an, drängt ihren massigen Körper zwischen die eng eingedrehten Blütenblätter. „Das muss doch gehen“, scheint sie zu denken. „Das ging doch gestern auch.“ Schließlich hat sie Erfolg, die Nachtkerze beginnt ihre Blüte zu öffnen, und die Hummel kann ihre Pollen einsammeln.

Ist dieses Verhalten wirklich nur das Resultat eines einfachen biologischen Automatismus? Oder stecken dahinter tatsächlich Hartnäckigkeit, Planung, eine individuelle Entscheidung einzelner Tiere? Haben wir die geistigen Leistungen anderer Lebewesen gnadenlos unterschätzt und unsere eigenen hoffnungslos überbewertet? Weltweit mehren sich die Indizien dafür, dass die Antwort lautet: Ja, haben wir. Jüngstes Beispiel: Erst im Juni veröffentlichten australische und französische Forscher in der renommierten Zeitschrift „Science“ eine Studie, die zeigt, dass Honigbienen nicht nur kleine Mengen miteinander vergleichen können, sondern darüber hinaus sogar das Konzept der Zahl Null verstehen.

Die Bienen wurden darauf trainiert, ein Bild mit der geringsten Anzahl von Elementen zu wählen, um eine Belohnung in Form von Zuckerlösung zu erhalten. So lernten sie zum Beispiel, drei Elemente zu wählen, wenn sie die Auswahl zwischen Tafeln mit drei oder fünf Punkten hatten. Als Forscher die Bienen zwischen einem Bild mit und einem ohne Punkte wählen ließen, entschieden sich die Bienen zur Verblüffung der Forscher für das Bild ohne Punkte.

Fast scheint es, als ob die Tiere verstanden hätten, dass Null ebenfalls eine Zahl ist. Dabei ist die Null ein kniffliges neurowissenschaftliches Problem. „Es ist relativ einfach für Neuronen, auf Reize wie Licht oder die Anwesenheit eines Objekts zu reagieren“, sagt einer der beteiligten Forscher, Adrian Dyer von der RMIT University Melbourne. „Aber wie können wir oder sogar ein Insekt verstehen, was nichts ist? Wie kann ein Gehirn nichts darstellen?“ Kinder brauchen Jahre, bis sie das lernen, und lange glaubten Wissenschaftler, dass nur Menschen die dafür nötige Intelligenz…

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Nr. 08/2018