Lesezeit 22 Min
Technik

Das Kind im Roboter

Roboter lernen zu sehen, zu greifen und ihre Umwelt zu entdecken. Eine neue Generation von Maschinen entwickelt sich wie Kinder – und verrät dem Menschen einiges über sich selbst

Neurorobotics Research Laboratory
von
Wolfgang Stieler
Lesezeit 22 Min
Technik

Neill Blomkamp versteht sein Handwerk. Es gibt Szenen in dem neuen Film des südafrikanischen Regisseurs, da muss dem Betrachter einfach warm ums Herz werden: Denn „Chappie“ ist zwar vordergründig die Geschichte eines Roboters, der lernt, die Welt der Menschen zu begreifen. Aber wenn der junge Robotikforscher Deon Wilson seiner Schöpfung eine Uhr vor das Gesicht hält, ihm sagt, „das ist eine Uhr“ – und der Roboter spricht ihm nach „eine Uhr“. Dann geht ein glückliches, extrabreites Grinsen über Wilsons Gesicht, das jeder nachfühlen kann, der die ersten Worte seines Kindes gehört hat. Das ist gute Science-Fiction. Und doch wieder nicht, weil es gar keine Science-Fiction mehr ist. Denn es gibt Wissenschaftler, die genau daran arbeiten: Roboter lernen zu lassen wie kleine Babys.

Nicht nur, um eines Tages vielleicht wirklich intelligente Maschinen bauen zu können, sondern auch, um einige der größten Rätsel überhaupt zu lösen: Wie wird aus einem hilflosen Säugling ein laufendes, sprechendes Wesen? Wie entstehen Intelligenz, Wille – und am Ende Bewusstsein? Und was unterscheidet den Menschen dann noch von der Maschine? Roboter eignen sich zunehmend besser dafür, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Sie lassen sich nach den Theorien der Forscher bauen, um zu testen, wie Lernen funktioniert – und wohin es führt, wenn künstliche Wesen ihre Umwelt erforschen.

Manfred Hild, Professor für „Digitale Systeme“ an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin, hat dazu seit 2013 ein einzigartiges Roboter-Experiment laufen. Man könnte sagen, er baut nicht nur einen Roboter, er erzieht eigentlich ein Kind. Der an seinem Institut entwickelte humanoide Roboter Myon fährt regelmäßig an die Komische Oper Berlin, um dort zu lernen: Was Musik ist beispielsweise, oder was Klänge mit Bewegungen zu tun haben. Was genau der Roboter dort lernt, kann auch Hild nicht sagen. Denn die Maschine wählt selbst aus, was sie interessant findet. Im Herbst 2015 soll Myon sogar in einem Stück namens „My Square Lady“ auftreten. Ob Myon singen wird? „Keine Ahnung“, sagt Hild. Die Maschine hat im wahrsten Sinne des Wortes ihren eigenen Kopf.

Wie weit diese Analogie geht, zeigt Myons Innenleben: Seine Körperteile arbeiten ohne zentrale Steuerung zusammen – ähnlich wie unsere Reflexe. In jedem Bein, in den Armen, im Rumpf, im Kopf stecken kleine Computerplatinen, die autonom arbeiten. Das Zusammenspiel dieses dezentralen Netzwerks ergibt, was Hild „interessantes Verhalten“ nennt.

Der Forscher erklärt das Prinzip an einem Roboterbein, das sich selbstständig aufrichten kann. In allen Gelenken ist eine simple Steuerung eingebaut, die den Motor stets gegen die Schwerkraft arbeiten lässt. Berühren Verse und Hüfte den Boden, zieht die Schwerkraft das Knie nach unten. Die sensomotorische Steuerung bewegt daher Ober- und Unterschenkel aufeinander zu und hebt so das Knie. Ähnlich arbeitet der Motor im Fußgelenk. Sobald einmal der ganze Fuß auf dem Boden steht, hängt der Oberschenkel...

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Nr. 4/2015