Lesezeit 42 Min
Technik

So wird 2017

Zwölf Monate lang beobachten wir die technologischen Entwicklungen in Unternehmen, Universitäten, von Pionieren und Visionären. Am Ende wagen wir eine Prognose, was die kommenden zwölf Monate wichtig wird. So auch diesmal für das Jahr 2017. Denn jeder Durchbruch hat eine Vorgeschichte.

SHUTTERSTOCK
von
Susanne Donner
,
Inge Wünnenberg
,
Daniel Hautmann
,
Denis Dilba
,
Gregor Honsel
,
Christian Rauch
,
Alexander Stirn
,
Christian Honey
und
Wolfgang Stieler
Lesezeit 42 Min
Technik

Von Daten und Nebenwirkungen

Gesundheitsdaten sind künftig die Währung im Gesundheitswesen. Wer sie hat, entscheidet über Therapie und Bezahlung. 2017 geht der Kampf richtig los.

Von Susanne Donner

Es ist Samstag, meine Tochter, nicht einmal ein Jahr alt, hat hohes Fieber. Sie hat sich erbrochen. In die Notaufnahme? Tausende Betroffene stehen Tag für Tag vor einer ähnlichen Frage. Dieses Mal rufe ich einen neuen telemedizinischen Dienst in Deutschland an, die TeleClinic. Angeblich ermöglicht der Service, zwischen 6 und 23 Uhr binnen 30 Minuten über Videotelefonie mit einem Arzt zu sprechen – auch am Wochenende. Für die ersten dreißig Tage ist das gratis. Danach zahlen alle Patienten, außer die Mitglieder der Barmenia sowie der Brandenburgischen BKK und der BKK Werra-Meissner, 30 Euro je Arztgespräch.

Eine Assistentin nimmt die Daten auf. Und tatsächlich, nach knapp zehn Minuten ruft mich ein Arzt zurück. Seit wann hat sie Fieber? Seit zwei Tagen. Wie hoch? Jetzt 39,5. Trinkt sie ausreichend? Weniger als normal. Hat sie andere Beschwerden, etwa Durchfall? Nein. Der Arzt rät zu fiebersenkenden Zäpfen. Solange unsere Tochter ausreichend trinkt, brauchen wir nicht unbedingt in eine Notaufnahme zu fahren, wo das Kind stationär aufgenommen würde und Infusionen bekäme.

Überall auf der Welt entstehen mehr und mehr Dienste wie die TeleClinic. Bis 2018 werde ihre Zahl auf sieben Millionen anwachsen, prognostiziert das Marktforschungsunternehmen IHS. Bis 2020 soll der gesamte Sektor der digitalen Gesundheitswirtschaft gar um 21 Prozent an Umsatz zulegen. Auch die Digitalkonzerne wie Google, Apple und SAP bereiten sich auf den Boom vor. Apple ist seit drei Jahren mit der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA in Kontakt. Denn das Unternehmen möchte über seine Apple Watch hinaus tragbare Geräte zum Überwachen der Gesundheit entwickeln und arbeitet unter anderem an einer App zur Diagnose der Parkinson-Erkrankung. Google hat 2016 über sein Tochterunternehmen DeepMind eine Kooperation mit dem staatlichen britischen Gesundheitsdienstleister NHS geschlossen und erhält fünf Jahre lang Zugang zu Millionen Daten über Krankenhausaufenthalte, um daraus App-Anwendungen zu entwickeln.

„Ich bin überzeugt, dass ein Durchbruch in der Digitalisierung kurz bevorsteht“, sagt Hans Lehrach, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin und Initiator des Future-of-Health-Manifests. Auch große Pharmaunternehmen wie Novartis, Boehringer Ingelheim und Roche brachten sich in den vergangenen zwei Jahren in Position, indem sie mit Start-ups Kooperationen eingingen oder diese gar aufkauften. Wer die Gesundheitsdaten hat, entscheidet künftig über Therapien und deren Bezahlungen.

Auf die Versicherungen kommt damit eine völlig neue Rolle zu. Existiert heute noch eine unverbrüchliche Kommunikationskette vom Patienten zum Arzt und von dort zum Versicherer, können Wearables und Smartphones künftig Gesundheitsdaten direkt an die Versicherung, aber auch an die Hersteller funken. Diese Daten sind die neue Währung im Gesundheitswesen. Krankenkassen könnten ihre Erstattung der Behandlungskosten dann davon abhängig machen, ob der Versicherte sich an die Arztempfehlungen gehalten oder die Tabletten eigenmächtig abgesetzt hat, deutet Evangelos Avramakis von Helsana, einer Schweizer Kranken- und Unfallversicherung, an. Das Gesundheitsdatennetz wird dichter, ermöglicht neue Einblicke und strengere Kontrollen.

»Der Umstand, aus bloßen Sensordaten Infektionen vorauszusagen, bevor sie zu spüren sind, ist sehr provokant.«

Eric Topol, Scripps Research Institute

Welche Rückschlüsse sich beispielsweise aus Daten von Wear ables ziehen lassen, zeigte Mitte Dezember eine Studie der Stanford University. 60 Testpersonen hatten dem Team um den Genetiker Michael Snyder Daten aus Körpersensoren zur Verfügung gestellt. So kamen die Forscher an Werte wie Körpergewicht, Herzfrequenz, Hauttemperatur, Sauerstoffsättigung im Blut oder körperliche Aktivität. Die Wissenschaftler glichen die Werte zudem mit Laboruntersuchungen ab. Bei mehreren Probanden sagte die Auswertung korrekt eine Entzündung voraus, ohne dass die Teilnehmer selbst schon davon wussten. Bei anderen ergab die Analyse Hinweise auf einen beginnenden Diabetes. „Der Umstand, aus bloßen Sensordaten Infektionen vorauszusagen, bevor sie zu spüren sind, ist sehr provokant“, kommentiert Eric Topol, Genetiker am Scripps Research Institute. Die Probanden trugen zwar bis zu sieben Körpersensoren, eine realitätsfremde Menge. Dennoch zeigt die Studie, wohin sich das Gesundheitswesen entwickeln dürfte.

tr.0117.031.qxp_page1_image1.jpg

Konzept des schwimmenden Windparks vor Schottland.

Mit der Vernetzung verändert sich auch die Forschung. In den USA beispielsweise betreut die American Society of Cancer and Oncology mit CancerLinQ eine der größten digitalen Datensammlungen zu Krebserkrankungen. Sie umfasst mittlerweile über eine Million Einträge. Die Angaben werden automatisiert aus den Praxen übermittelt. Kaum eine Studie zählt so viele Teilnehmer. „Es gibt darin rund vierhundert Männer mit Brustkrebs, eine extrem seltene Erkrankung. Die größte Studie dazu bekam mit Mühe und Not 300 Patienten zusammen. Der Mehrwert liegt darin, dass Forscher also ganz neue Einsichten gewinnen können“, sagt Dominik Bertram vom Softwareunternehmen SAP, das die Datenbank entwickelt hat.

Jetzt weiterlesen für 0,92 €
Nr. 1/2017