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"Ich kann meine Reißzähne wirklich spüren"

Regelmäßig überkommt Sarah das starke körperliche Gefühl, eine Löwin zu sein. Dann will die 28-Jährige brüllen, in Bäume klettern, ihre Krallen ausfahren. Therianthropie heißt das, was sie da spürt – und bekannt ist darüber bislang noch wenig

PIRO4D / pixabay.com
von
Inge Schilperoord
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Erst letzte Woche ist es wieder passiert. Zur Hauptverkehrszeit in der U-Bahn in Manhattan. Gedränge und Geschiebe, zu viele Menschen, Wärme, Gerüche. Genervt fuhr Sarah ihre imaginären Krallen aus. Eine Frau drängte sich an ihr vorbei. „In meiner Fantasie schlug ich meine Krallen in ihren Nacken und drückte sie mit meiner Tatze wie eine Beute zu Boden. Erst dann beruhigte ich mich wieder.“

Die New Yorkerin Sarah (28) verhält sich wie ein Mensch, fühlt sich jedoch innerlich auch als Löwin. Sie bezeichnet sich selbst als Therianthropin. Laut der Wissenschaftler, die in dem Bereich forschen, ist das eine Person, die sich ganz oder teilweise wie ein Tier fühlt; Therianthropie ist eine Zusammensetzung der griechischen Wörter therion (wildes Tier) und anthropos (Mensch). Das Tier, mit dem sich Sarah identifiziert, ist der afrikanische Löwe. Wie stark eine solche Identifikation ist, unterscheidet sich je nach Person. „Manche fühlen sich mehr als Tier, andere als Mensch. Bei mir ist es fifty-fifty.“

Sarah spielt an ihrer Halskette, starrt aus dem Fenster des Coffeeshops auf dem Union Square und rührt bedächtig in ihrem Chai Latte. Es ist nichts Tierisches an ihr zu erkennen. Und schon gar nichts Wildes. Sie wirkt unauffällig. Klein und schlank mit einem blassen, sommersprossigen Gesicht, schulterlangen Locken, rosafarbener Jacke. Ob sie eine Metamorphose erlebt, wenn der Löwe in ihr erwacht? Sie lacht über die Frage. „So sollte man das nicht sehen. Meine…

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Nr. 5/2017