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Was vom Leben übrig bleibt

Es sind die vielen kleinen Dinge, die sich im Lauf der Zeit angesammelt  hatten und die Manfred Renninger zurücklässt, als er 2008 aus der Hamburger Seemannsmission  verschwindet.  Kann man einen Menschen anhand dessen, was sich in seiner Seekiste  befindet, charakterisieren? Können Gegenstände die Geschichte eines Lebens und Verschwindens erzählen?

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von
Dimitri Ladischensky
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Dies ist die Geschichte eines Mannes, der verschwunden ist. Manfred Renninger hat nicht darum gebeten, dass ich ihn suche, vielleicht hat er kein Interesse daran, vielleicht würde er sich darüber freuen, vielleicht ist er tot. Und weil ich es nicht weiß und ihn auch nicht fragen kann, ob ich über ihn schreiben darf, muss ich seinen Namen, seinen Geburtsort, sein Alter aus Datenschutzgründen ändern. Niemand darf in dem, was ich schreibe, die Person erkennen. Wobei ich mir wünschen würde, dass ihn jemand erkennt, jemand vermisst. Das Traurige ist nicht, dass Manfred Renninger verschwunden ist. Das Traurige ist, dass ich der Einzige bin, der nach ihm sucht.

Jedes Jahr kam Manfred Renninger für ein paar Nächte in der Hamburger Seemannsmission am Michel vorbei, eine der 17 Sozialstationen, die die evangelische Kirche in Deutschland für „Gestrandete“ betreibt, für Seeleute, die von Bord gehen, eine Anschlussheuer suchen, Urlaub machen, krank geworden sind oder keine andere feste Adresse in ihrem Leben haben, denn das ist die Seemannsmission am Krayenkamp 5: Jugendherberge, Postsammelstelle, Gepäckaufbewahrung im Keller. Die Seeleute kommen für ein paar Tage, holen ihre Post beim Pförtner ab, gehen in den Keller zu ihrem Gepäck, wechseln Sommer- gegen Winterkleidung oder umgekehrt und steigen aufs nächste Schiff.

Jedes Jahr ging Manfred Renninger die Reihen mit den Koffern, Kartons und Säcken ab, bis er zu seiner Kiste kam, Regal 5, Fach 66, nahm etwas heraus oder tat etwas hinein, verschloss sie wieder, notierte Datum und Uhrzeit auf einem Zettel, den er an die Kiste klebte. Dann lief die Uhr wieder. Ein Jahr, so lange dürfen Seeleute ihre persönlichen Sachen im Keller kostenlos lagern. Wenn sie nach einem Jahr weder abgeholt noch angerührt worden sind, gehen sie in den Besitz der Seemannsmission über.

Der stellvertretende Leiter der Mission Felix Tolle kannte „Manfred“ seit seinem Zivildienst 1999, und die Kiste sei schon vorher da gewesen, schon viele Jahre vor ihm. Er sei ein Einzelgänger gewesen, habe sich von anderen ferngehalten, keinen Besuch bekommen und viel gelesen. Er habe immer ein Einzelzimmer genommen, 16 Euro die Nacht, ohne WC und Dusche. „Er war ein kultivierter Mensch“, sagt Tolle, „kein einfacher Decksmann. Er erzählte viel über Süd­amerika, über Bolivien, sein Traumland. Er wollte immer mit dem Motorrad die Panamericana fahren, den Highway von Alaska nach Feuerland über die Anden.“

Korrekt sei er gewesen, sehr ordentlich, sehr akkurat, sehr strukturiert. Er habe seine Besuche in Hamburg immer rechtzeitig angekündigt und sich ein Zimmer reservieren lassen. Und er trug in seinem Portemonnaie einen vielfach gefalteten Zettel mit sich, auf dem er sämtliche PIN-Nummern notiert hatte.

Deshalb wunderte sich Felix Tolle,…

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No. 124, Oktober/November 2017