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Kultur

Winken bis nach Buenos Aires

Asbeststaub in der Lunge. Premiere-Decoder im Schrank. Maradona auf Koks. Und dann noch Bypass statt Fußball. Auf dem Weg zum Sterben nimmt sie noch einmal Platz neben ihm auf dem Sofa. Eine fast Vater-Tochter-Geschichte, wenn er sie denn adoptiert hätte. Was ihr bleibt, ein T-Shirt von ihm, um sich von ihm noch einmal alles anzuziehen.

STEPHANIE WUNDERLICH
von
Lucy Fricke
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Kultur

Lucy Fricke

wurde 1974 in Hamburg geboren. Im Herbst 2014 erschien im Rowohlt Verlag ihr dritter Roman „Takeshis Haut“. Für ihre Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie Writer in Residence an der Universität Iowa/USA und in der Villa Kamogawa/Kyoto des Goethe-Instituts Japan. 2010 hat sie das jährliche Hamburger Literaturfestival HAM.LIT gegründet, das sie seitdem kuratiert. Lucy Fricke lebt in Berlin.

Zum Frühstück zweimal Johanniskraut, einmal Multivitamin und eine Aspirin zur Blutverdünnung, dazu Espresso mit viel Milch und Zigaretten ohne Zusatzstoffe. Ich bin immer erreichbar und immer online, ich habe zwei feste Adressen, an denen ich nie bin, vier Telefonnummern, fünf email-Adressen, sechs Konten und für jedes eine Kreditkarte. Ich habe einen Steuerberater und keinen Hausarzt, ich benutze Antifaltencreme und Heißwachsstreifen und Weihnachten war ich in New York, habe Katzen gefüttert, Kakerlaken getötet und Heiligabend mit ein paar Bieren in Chinatown gefeiert.

Und kurz nach Neujahr rufst du an, nach achtzehn Jahren rufst du einfach so an und fragst: Wie geht’s? Und ich sage: Gut, und dir? Und mein Mund ganz trocken und die Hände feucht und ob wir uns nicht mal treffen können, fragst du, du hättest eigentlich immer Zeit. Bloß nicht mehr lange.

Am nächsten Abend bin ich da, mit dem Zug am Bahnhof in der Stadt, die ich vor Jahren verließ und du hast gesagt, du würdest direkt an der Kreuzung stehen, gegenüber vom ZOB, auf dem Parkstreifen, du würdest jetzt einen kleinen, schwarzen Honda fahren, nicht mehr deinen dunkelblauen Mercedes, mit dem du mich damals manchmal zur Schule gebracht hast. In diesem Auto habe ich dich das letzte Mal gesehen, wir sind damit auf den Hof der Schule gefahren, weil ich spät war und weil ich angeben wollte mit dir und unserem Mercedes, doch niemand hat es gesehen, alle waren schon in ihren Räumen und niemand schaute aus dem Fenster. Du hast mein Gesicht zwischen deine Hände genommen, die so groß waren, daß sie meinen Kopf ganz umschlossen und mich auf die Stirn geküßt, so leicht, daß ich kaum wußte, ob deine Lippen mich wirklich berührt haben. „Paß auf dich auf, mein Mädchen“, hast du gesagt, als ich meine Tasche von der Rückbank zog und dann bist du vom Hof gerast, hast vor dem Tor den Wagen herumgerissen und noch Jahre später starrte ich manchmal in den großen Pausen auf die verblichen schwarzen Bremsspuren und versuchte dich zu hassen.

Gegenüber vom Bahnhof laufe ich den Parkstreifen auf und ab, man bietet mir zwanzig Euro für einmal Blasen an, Pillen, Dope, H, Schnee, bei Valium bin ich fast dabei, man nennt mich Schlampe, Fotze und fette Kuh. Ich rufe dich zuhause an und du nimmst ab, als hättest du keinen Anruf erwartet. Du seiest nervös gewesen, sagst du, hast schon mal ein bißchen was getrunken und das verträgst du nicht mehr, bist wohl eingeschlafen, sagst du und ob ich böse bin jetzt, ob ich mir ein Taxi nehmen könnte, du zahlst das auch, und dann gibst du mir deine Adresse.

Es ist eine Fahrt Richtung…

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No. 81