Lesezeit 36 Min
Gesellschaft

Novelle einer überschaubaren Apokalypse

Virgil Neumann hat zwanzig Jahre an seinem Roman geschrieben – und alle, die ihn lesen, scheinen in ihm unterzugehen. Sind sie selbst die Protagonisten, die sich dem Diktat des Autors nicht entziehen können? Buch essen Seele auf: So fassbinderisch nähert sich der Text von Isabella Feimer dem Leser

MICHAEL WINKELMANN
von
Isabella Feimer
Lesezeit 36 Min
Gesellschaft

Über die Autorin:

Isabella Feimer wurde 1979 in Niederösterreich geboren, lebt in Wien. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften, arbeitet als freie Regisseurin und schreibt Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Sie war 2012 für den Bachmannpreis nominiert und ihr Romandebut „Der afghanische Koch" wurde mehrfach ausgezeichnet.

Einatmen, ausatmen, zähl bis fünf oder fünfzig, während du dir leichtfüßig neue Luft holst, spür den Sauerstoff, wie er in dich dringt, wie ein zärtlicher Liebhaber, der die Kunst der Liebe von der Pike auf gelernt, deine Mitte finden, dein Zentrum visualisieren, ist es eine Schneeflocke oder ein Feuerball oder irgendetwas dazwischen, eine Seifenblase?, ein Kartoffelknödel?

(Wenn du schreibst, schreibst du unerbittlich gegen dich, und dieser Fluss reißt dich mit, knechtet deine Seele und lässt deinen Körper an Stock und Stein und dem Treibgut ungewollter Satzkinder zerschellen.)

Jetzt alle, einatmen, ausatmen, alle Geheimnisse werden gelüftet, sei ehrlich zu dir, sei folgsam deiner inneren Stimme lauschend, Finger weg von Drogen, die sind ein anderer Fluss, einer, der gegen den Strom, ein von einem Blutstropfen angelockter Hai im Swimming Pool des dir fehlenden Selbstbewusstseins, rauche nicht, trinke nicht, wirf nichts ein, das deinem Körper nichts Nahrhaftes, liebe und schätze deine Nächsten, deine Schwächen, diese dämonischen Kletten, die sich tief in die Haut, erkenne sie an, zolle ihnen den Respekt, den sie verdienen, siehst du dein inneres Kind?, siehst du es?, liebst du es?, sprich mit ihm, ausatmend, flüstere ihm, einatmend, alles – wird – gut.

War kein Geheimnis, dass Virgil Neumann, Autor, 37, geboren bei Wien, aufgewachsen auf dem Dorfe, früh hinausgezogen in die Welt, gestorben und wieder auferstanden, Tabletten nahm.

Drauflos hatte er dem höflich lächelnden Kulturjournalisten ausgeplappert, was es über ihn zu wissen gab, nicht nur über die Texte, die er schrieb, und Gedanken, die er zu diesen Texten hatte, nicht nur über Mutter, Vater, eben jener Kindheit auf dem Dorfe, die zum Glück, wie er betonte, unbeschadet war und vorbei, und für Thomas Hanse, dem Revolverblattschreiberling (liebevoll von Schwester Pia so genannt), war das ein gefundenes Festmenü, endlich einer, der sein Innerstes nicht geheimniskrämerisch bei sich behält, endlich einer, dachte er, der erzählen will, sich nichts schert um Privatsphäre, ihm erzählen will, dem (wie er sich einredete) vertrauenserweckenden Gegenüber, und zwar alles. Wahrheit und Lüge nah beieinander, wenn Virgil Neumann sprach, und nicht ohne Neid blickte Hanse in die Wunden, in die Neumann ihn blicken ließ und die er selbst gerne gehabt hätte, und von denen er auch hätte erzählen können, in einem Roman vielleicht, den er gern geschrieben hätte, in diesem Roman, der so unfassbar, alles stand darin, das Leben, der Tod, und alles, was dazwischen lag, und Neumann sagte, es sei bloß eine Liebesgeschichte, ganz banal, er könne sich den Erfolg auch nicht - und Hanse nickte.

Einatmen, ausatmen, nicht in Gruben stürzen, die du anderen, oder andere dir, und den Bären, den sprichwörtlichen, lass schön brav abgebunden, dein Rücken hat sein eigenes Kreuz, zu tragen ist die eigene Bürde, von Kindheit an lastet sie schwer, mit im Uterus des Mutterkörpers schwimmend, ein Bläschen, ein dunkler Gedanke, diese Gewitterwolke über nur deinem Kopf, atme dich ins Licht, und merke, Satzzeichen sind freundliche Helferlein, sie verschaffen Platz, sie geben deiner Seele Raum zum Innehalten, in deinem Kopf, stell es dir vor, ein Schachbrett, alle Felder grau, du erst gibst ihnen weiß und schwarz als Farbe, die keine sein will, als Zeichen, das es zu setzen gilt, ! (Ausrufungszeichen), hörst du mich?, siehst du mich?, die Silhouette, sich verzerrend, im Dunst des Horizonts.

Pia, Hanses Zwillingsschwester, lag auf dem Teppich im gemeinsamen Wohnzimmer, sie atmete ein und atmete aus, der Teppich eine Moosfläche, in die sie versinken konnte, und die Fingerspitzen gruben sich links und rechts in die Faser, Pia stöhnte nach jedem dritten Atemzug, und das Buch, fast in seiner Mitte aufgeschlagen, lag auf ihrem Bauch, es hob und senkte sich, fühlte sich schwerer an, als es sein durfte. Noch war sie allein, blieb noch ein Weilchen verschont von der Überpünktlichkeit des Bruders, der sich strikt an den Feierabend hielt und Überstunden hasste so wie alte Leute die Pest, Pest, Pest, Pest, schoss es ihr ein, Pia dachte gerne an Krankheiten, auch an jene, die es nicht mehr gab, die Schulmedizin oder der Lauf der Jahrhunderte ausgerottet hatten. Schade, schade, schade, nicht, dass sie sich diese Krankheiten wünschte, weder zurück noch ihr selbst an den makellosen Leib, sie dachte nur gerne…

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No. 66