Lesezeit 30 Min
Kultur

Märchen vom Reißaus

Wenn das „Märchen vom Reißaus“ ein Film wäre, würde er in einer Reihe mit „Night on Earth“, „Pulp Fiction“ oder „Short Cuts“ stehen. Freuen Sie sich auf geschickt geschichtetes Geschichtenerzählen – und einem Erzähler, der bereits mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde und sich entspannt zu Jarmusch, Tarantino und Altmann gesellen kann: Nils Mohl!

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von
Nils Mohl
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Kultur

Über den Autor:

Nils Mohl, geboren 1971, lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Hamburg, Stadtteil Jenfeld. Nach dem Studium arbeitete er im Baugewerbe, im Einzelhandel, in der Logistikbranche, unterrichtete als Dozent u. a. an der Uni Hamburg und war lange Jahre Angestellter in der Reklamewirtschaft. Er besitzt einen Campingwagen auf der Nordseeinsel Amrum.
Die Website des Autors: www.nilsmohl.de

Es war ... zwei Mal. Vielleicht auch drei vier fünf Mal. Oder häufiger. Der junge Mann ging den gepflasterten Weg, kurz vor Schichtbeginn. Hinter ihm entfernte sich der Linienbus. Kein anderes Fahrzeug weit und breit, kein Mensch. Im Gehen streckte der junge Mann den Arm aus, brachte den Maschendrahtzaun mit der Hand zum Klimpern. Blick dabei auf die Lagerhalle. Ein ehemaliges Zementwerk, ein monumentaler Klotz. Nackter Beton, hier und da ein wenig Glas und Wellblech.

Schritte, die sich verlangsamten. Das Klimpern des Zaungeflechts, das erstarb. In der feuchten Luft ein kaum hörbares Fiepen und Knistern.

Stokke kennt das alles: Stehen bleiben, Hände, die sich im Rücken berühren, der Kopf, der weit in den Nacken wandert, das angestrengte Ausatmen. Er ist dieser junge Mann. Und auch heute legt er wieder eine kleine Pause ein, obwohl er bereits spät dran ist, zögert so das Betreten des Firmengeländes hinaus. Schaut auf. Das leicht mit Weiß schraffierte Blau eines Sommerhimmels, das von den Überlandleitungen zerschnitten wird.

Stokke horcht. Auf das Knistern und Fiepen im Industriegebiet der Vorstadt. Und in sich hinein. Bemerkt das eckige Gefühl im Magen. Das untrügliche Zeichen, dass etwas vorgeht, für das er keinen Namen kennt. Es kommt und geht, begleitet ihn spätestens seit seiner Einstellung.

Damals hat man ihm gesagt, dass ein talentierter, intelligenter junger Mann wie Stokke hier im Lager sein Glück finden könne. „Da braucht man keine große Fantasie, meine Bester, Sie sind einer der seinen Weg machen wird!“

Das waren die Worte, dazu gab es im Spaß einen Fausthieb in Richtung Stokkes Bauch. Das Wort Glück, das Wort Fantasie. Geisterhafte Echos. Stokke verzieht es beim Erinnern unwillkürlich das Gesicht. Und plötzlich tut sich da etwas im Rückgratbereich. Stokke wächst. Wächst in die Länge – einen Zentimeter, über den Daumen geschätzt.

Alles ist zwei Mal (mindestens). Oder nicht? Einmal so, wie es wirklich ist, nämlich in der Sekunde, in der es passiert, gleich jetzt und hier. Bekannt, logisch – auch Stokke würde das wohl nicht abstreiten. Stets und ständig lässt sich das ja in

all seiner hexenhaften Tücke beobachten: Erst erleben wir Menschen etwas und später kehrt es in unser Bewusstsein zurück. Manchmal wieder und wieder. Manchmal verändern sich die Dinge dabei so, dass es geradezu haarsträubend erscheint. Aber erst einmal müssen Sie natürlich geschehen.

„Und jetzt gehtʼs los! Brust raus, Sie machen Ihren Weg, junger Mann.“

Stokke strafft sich kurz (ein Reflex auf einen mächtigen Schulterklopfer aus der Vergangenheit). Sein Blick hat sich längst haltlos in der unvorstellbaren Weite des schraffierten Himmels verloren. Der eben erst gewonnene Zentimeter droht bereits wieder, abhanden zu kommen. Doch dann wird ein Knattern in der Luft hörbar. Schwillt an, übertönt das Knistern und Fiepen, gewinnt Stokkes Aufmerksamkeit.

Zur gleichen Zeit:

Die Andersen rümpft die wohl geformte Nase, zupft an einem ihrer hellblauen Lederhandschuhe und hat bessere Laune, als sie zugibt Wolf Stahl nimmt die Beine in die Hand. Er hat es nicht weit zur Arbeit, aber vor dem Aufstehen spulte unverhofft seine Lieblingserinnerung in allen Einzelheiten vor ihm ab. Da ist er ins Trödeln gekommen. Stahl ahnt nicht, dass er keine vier Stunden mehr zu leben hat.

Die hochschwangere Alice sitzt hinter dem Steuer ihres PKW, denkt und denkt nach, möchte das gar nicht, sondern viel lieber wissen, wie alles weiter gehen soll und weiter…

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No. 67