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Kultur

Der Silberpudel

Wenn Hunde Heinz heißen, oder genauer gesagt, ein alter, röchelnder Pudel wird z.B. mit dem Namen Peter gerufen und ersetzt der Großmutter den verstorbenen Großvater, dann starren sie längst auf das Körbchen vom Silberpudel und wissen nicht, warum Sie ausgerechnet über Kränze, Kaffee und Kuchen sinnieren. Tristesse at his best!

HEIKE KÜSTER
von
René Hamann
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Kultur

René Hamann

geb. 1971 in Solingen, lebt in Berlin. Arbeitet als Redakteur für die taz und als freier Autor.
Sein Blog „Die Suche nach dem Glam“ ist unter www.renehamann.blogspot.de zu finden.

In der Küche meiner Großmutter roch es nach Brathähnchen. In seinem Körbchen röchelte der Silberpudel. Er hatte Krebs. Er durfte nicht sterben, denn Großmutter wollte nicht allein sein, und einen neuen Pudel sollte sie nicht mehr bekommen. Großvater war knapp zwei Monate tot. Es hatte ein Sechswochenamt gegeben. Wir waren nicht erschienen. Wir machten uns nichts aus Kirchgängen. Wir waren zur Beerdigung gefahren, wir hatten eine Nacht in diesem ehemaligen Bauernhaus verbracht, danach waren wir fortgeblieben, und jetzt waren wir nur auf der Durchreise. In Großmutters Küche hingen Bilder an der Wand. Die Pudel der letzten Jahrzehnte. Es gab Pudel mit Adelsnachweisen, Pudel mit Stammbäumen. Es gab größere, dunklere Königspudel, und kleine Silberpudel. Die Pudel saßen meist und schauten stolz und selbstbewusst in die Kamera, als ob sie schon immer fotografiert worden wären, als ob sie das Prinzip des Fotografierens schon immer verstanden gehabt hätten. Sie saßen und schauten den Betrachter an wie alte Monarchen. Großmutter machte Kaffee, sie schaltete die Kaffeemaschine ein, die hinter ihr auf der Anrichte stand. Die Maschine röchelte mit dem Pudel um die Wette. Großmutter holte Teller, Tassen und Besteck aus den Einbauküchenschränken und beklagte ihr Schicksal. Vater sagte nichts. Er war gefahren, ich hatte auf dem Beifahrersitz gesessen und gelesen. Unterhalten hatten wir uns kaum. Das war auf unseren gemeinsamen Autofahrten schon immer so gewesen. Vater fuhr, ich saß daneben, las, träumte, schlief. Nur in der ersten Phase nach der bestandenen Fahrprüfung durfte ich längere Strecken fahren, auch die zu den Großeltern. Danach hatte ich zunehmend freiwillig darauf verzichtet, bei der Arbeit saß ich oft genug hinter dem Steuer. Großmutter packte die Brathähnchen aus den mit Alufolie ausgekleideten Papiertüten. Ich schaute mich um. Von den Fotos und den kitschigen Porzellanfiguren, die überall herumstanden – Engel, Hunde, Zwerge, ein paar Kleinvögel – über die makellos saubere Anrichte mit der roten Kaffeemaschine deutscher Fabrikation und dem Herd auf die Telefonbank neben dem Küchentisch, an dem wir Platz genommen hatten, auf das Hundekörbchen, auf dem mein Blick nicht lange stehen blieb. Der Pudel irrte aus dem Körbchen, aufgeschreckt durch den Brathähnchengeruch, durch unsere Anwesenheit, durch meine Aufmerksamkeit. Er sah abgemagert aus; ohne Unterlass troff ihm Speichel aus seiner stinkenden Schnauze, er sah aus wie nach einer Chemotherapie. Der Küchenboden war aus hellbeigem PVC. Auf der Autofahrt war ich wie üblich nach der Hälfte der Strecke eingeschlafen. Hatte ich nicht auch von Hunden geträumt? Von großen, dunklen Hunden, Schäferhunden, Rottweilern, nein, eigentlich hatte ich nur von ihren Köpfen geträumt. Die Hunde hatten Löcher gegraben. In die Wiese, unter den Zaun durch. Hinter dem Haus meiner Eltern. Tunnel. Mehrere. Ich hatte von diesen Fluchttunneln geträumt, und von einer Häuserwand, vor der sie aufgereiht lagen. Die abgeschlagenen Hundeköpfe. Die ich abgeschritten hatte wie ein Feldherr. Ein Feldmarschall. Ein hoher Soldat. Ich schaute auf meinen Teller, auf dem ein dampfendes Brathähnchen lag. Ich weiß nicht, wer die Hunde geköpft, also erst verurteilt und dann exekutiert hatte. Ich weiß nicht, wer den Befehl dazu…

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No. 78