Lesezeit 17 Min
Gesellschaft

Weniger haben und mehr sein

Besitz macht nicht glücklich. Dennoch giert alle Welt danach. Wir haben einen Vorschlag für einen Ausweg.

CC by 2.0 Bestimmte Rechte vorbehalten von Moyan_Brenn
von
Tobias Hürter
und
Thomas Vašek
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Gesellschaft

Stellen wir uns vor, die Wunschfee kommt auf die Erde. Sie besucht alle sieben Milliarden Menschen, und alle dürfen einen Wunsch äußern. Sofern er logisch konsistent ist, wird die Fee diesen Wunsch erfüllen. Sie hat übernatürliche Kräfte, die Grenzen der Physik gelten nicht für sie. Welchen Wunsch wird sie am häufigsten hören? Es gibt keine repräsentativen Erhebungen zu dieser Frage. Aber es drängt sich auf, die Antwort zu raten: »Viel, viel Geld!« Die allermeisten Menschen würden diesen Wunsch zumindest in Betracht ziehen. Man darf sogar vermuten, dass der Geldwunsch über die ganzen letzten Jahrhunderte und Jahrtausende der Favorit gewesen wäre. Wenn diese Vermutungen stimmen, sollten sie Philosophen und anderen klugen Leuten zu denken geben. Seit vorsokratischen Zeiten predigen sie, dass im Materiellen nicht der Weg zum Glück liegt. Werft die Last des Besitzes ab, wendet euch dem Guten, Wahren, Ewigen zu! In wenigem sind sich Philosophen und Weltreligionen so einig wie in diesem Appell. Warum nur bleibt er so hartnäckig ungehört – warum sind wir nicht alle überzeugte Besitzlose? Und welchen Wunsch sollte man besser an die Fee herantragen, sollte sie tatsächlich einmal auftauchen?

Der Wunsch, zu besitzen, ist ein Trieb, den die Evolution tief im Menschen verwurzelt hat, ganz ähnlich wie die Triebe zur Fortpflanzung und zur Nahrungsaufnahme. Auch einfache Tiere kennen eine »Jemeinigkeit«, die Vorform des Eigentums. Sie verteidigen ihr Revier und versuchen, es auszuweiten, auch mit Gewalt, sie horten ihre Nahrungsvorräte. Es gehört zum Prozess der Zivilisation – des einzelnen Menschen und unserer ganzen Gattung –, den Sex und das Essen zu »managen«: beides weder ganz zu unterdrücken, noch sich ihnen hemmungslos hinzu­geben, sondern sie in wohlgewähltem Maß auszuleben. Die Gefahren sind allgemein bekannt, niemand will zum Sexjunkie oder zum Fettwanst verkommen. Es braucht keine Philosophen, um davor zu warnen.

Beim Haben verhält es sich anders. Kann man zu viel haben? Was könnte das schon schaden? Jedenfalls schadet es nicht der gesellschaftlichen Anerkennung. Verfressene oder sexuell promiskuitive Menschen genießen nicht gerade Hoch­achtung. Aber es gilt: je reicher, desto besser.

»Das Sein ist wichtiger!«, sagen seit jeher die klugen Leute. »Das Haben gilt mehr!«, schallt es aus der wirklichen Welt zurück...

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Nr. 5/2014