Lesezeit 19 Min
Gesellschaft

Welche Freiheit brauchen wir?

Vom Sieg Donald Trumps bis zum Aufstieg der AfD: In den westlichen Demokratien wachsen Wut und Angst vor Terror. Was bisher selbstverständlich schien, wird immer mehr infrage gestellt – die liberale, offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für eine neue »Radikale Freiheit«, ein freies Wir, das ein- und nicht ausschließt.

tattoostock / Shutterstock.com
von
Rebekka Reinhard
und
Thomas Vašek
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Gesellschaft

So viel Freiheit wie heute war nie. Wir können und dürfen tun und lassen, was wir wollen – shoppen, chatten, vögeln, völlern, hassen. Man kann jederzeit und überall fast alles sagen. Auf Facebook hat jeder seine Stimme. Es ist möglich, über Flüchtlinge herzuziehen, Politiker zu beschimpfen, gegen die Burka zu wettern. Wir können es unter vollem Namen tun oder ein Pseudonym wählen.

Wir sind auch frei, wie wir auf Wutreden und Hassbotschaften anderer reagieren möchten. Wir können sie mit Likes quittieren und einstimmen in den Chor der Gekränkten. Wir können auch dagegen votieren, im Vertrauen auf das bessere Argument. Oder wir schalten gleich ab und schauen weg.

Niemand zwingt uns zu wählen, zu heiraten, zu arbeiten, wenn wir etwas anderes vorziehen. All diese Freiheiten sind uns so selbstverständlich wie das Atmen. Sie gehören zu unserer Vorstellung einer liberalen, offenen Gesellschaft, zu unserer Idee eines freien Individuums, das sich selbst verwirklichen, stets neu erfinden und seine Lebensentwürfe verändern kann. Aber ist das die Freiheit, die wir heute brauchen? Oder vergrößert ein so verstandener Liberalismus die Kluft zwischen »uns« und »denen«, zwischen »Elite« und »Abgehängten« – also zwischen jenen, die von ihrer Freiheit optimal Gebrauch machen (können) und allen anderen?

So viel Freiheit wie heute war nie. Und doch: So bedroht war die Freiheit schon lange nicht mehr. In den USA, in Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich und Ungarn – überall greifen Populisten nach der Macht, sie attackieren die Flüchtlingspolitik, das »Establishment«, das Modell der liberalen, pluralen Gesellschaft. Und es scheint, als habe der Liberalismus dem Trend nichts entgegenzusetzen: Überall verschärft sich die ökonomische Ungleichheit, das Migrationsproblem ist ungelöst, die Globalisierung teilt die Welt scheinbar auf in Gewinner und Verlierer. Ist das die Schuld der Elite? Hat vielleicht der US-amerikanische Ideengeschichtler Mark Lilla recht, der den »Liberalismus der Identität« mit seiner Fixierung auf die Rechte von Randgruppen für den Wahlsieg von Donald Trump verantwortlich macht?

Der Liberalismus betont seit jeher die Freiheit des Individuums und bestimmte Grundrechte wie Meinungs-, Wahl- und Religionsfreiheit, Toleranz und Demokratie. Dazu gehören auch grundsätzliche Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen und das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte des freien Marktes. Aus klassischer liberaler Sicht heißt Freiheit einfach, dass wir in unserem Denken und Tun keinen Einschränkungen unterliegen, uns…

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Nr. 2/2017