Lesezeit 14 Min
Philosophie

Größer als man selbst

Menschen berichten seit jeher von Erfahrungen, in denen sie die Grenzen ihres eigenen Daseins überschritten und in Kontakt mit etwas größerem traten. Die Rede ist von Transzendenz. Aber um was geht es da genau? Eine Annäherung.

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von
Tobias Hürter
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Philosophie

Er war Verstandesmensch durch und durch: Sir Bertrand Russell (1872–1970), der englische Mathematiker, Philosoph und Atheist. Doch eines Tages, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, hatte er ein Erlebnis, das seinen Verstand überstieg. Einen »Augenblick mystischer Erleuchtung« nannte er es später in seiner Autobiografie. Für fünf Minuten empfand er ein tiefes Gefühl für das Leid der Menschheit und ein überwältigendes Gefühl von Liebe: »Ich spürte, dass ich die innersten Gedanken aller Menschen kannte, die ich auf der Straße traf, und obwohl das zweifellos eine Täuschung war, fand ich mich in weitaus engerem Kontakt als vorher mit allen meinen Freunden und vielen meiner Bekannten.« Es waren nur ein paar Minuten, aber sie machten einen anderen Menschen aus Bertrand Russell. Zuvor sei er ein Imperialist gewesen, bekannte er – ab da war er Pazifist.

Rein sachlich gesehen, war der Philosoph und Mathematiker in jenen paar Minuten nicht schlauer geworden. Aber er sah das, was er wusste, aus einer radikal neuen Perspektive. Man kann das Erlebnis von Bertrand Russell eine Transzendenz-Erfahrung nennen – eine Erfahrung also, die ihn aus seinem alltäglichen Denken und Wahrnehmen herausriss und ihm etwas Größeres zeigte.

Transzendenz, das ist einer dieser großen Begriffe, die ständig irgendwie im Raum herumschwirren und nur schwer zu fassen sind. Das Wort »transzendent« kommt vom lateinischen Verb »transcendere« für überschreiten. Ein transzendenter Gedanke (oder ein Gefühl) zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Grenze überschreitet, vom sicheren Terrain unseres alltagsgewohnten Denkens ins – ja, wohin?

Für die Philosophen der Scholastik, die das Adjektiv »transzendent« als Erste ausgiebig gebrauchten, bedeutete es zunächst noch so etwas wie »allgemein« oder »abstrakt«. Res (das Ding), ens (das Seiende), verum (das Wahre), bonum (das Gute) waren Beispiele für transzendente Kategorien. Daraus ergab sich bald…

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Nr. 1/2018