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Philosophie

Der letzte Idealist

Den Philosophen Dieter Henrich zu sprechen ist eine Ehre. Der heute 90-Jährige widmete sein Denken zeitlebens der »Subjektivität« – dem Verständnis des Menschen von sich und der Welt – und war dabei stets auf der Suche nach dem großen Zusammenhang.

By Silanion (User:Bibi Saint-Pol, own work, 2007-02-08) [Public domain], via Wikimedia Commons
von
Tobias Hürter
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Philosophie

Wer sich mit Dieter Henrich zum Gespräch trifft, wird es unweigerlich mit dem Gefühl größten Respekts tun. Einem gegenüber sitzen über 70 Jahre Philosophiegeschichte – nicht vom Papier angelesen, sondern selbst erlebt und gestaltet. Die großen philosophischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Existenzialismus, Frankfurter Schule, analytische Philosophie, Postmoderne und Dekonstruktion – Henrich hat sie kommen sehen und manche auch gehen, und er hat sich mit vielen ihrer Vertreter gestritten. Henrich selbst steht nicht im Verdacht, einer Modebewegung hinterherzulaufen. Sein Philosophieren gründet auf den großen Systemdenkern des deutschen Idealismus: Kant, Hegel, Fichte. Das galt als arg verstaubtes Terrain, als Henrich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Philosophie kam. Dass es heute weniger verstaubt ist, ist auch ihm zu verdanken.

Auch in Henrichs Wirken zeigt sich Beständigkeit. Er begann in Marburg, seiner Geburtsstadt, Philosophie zu studieren, erwarb 1950, mit 23 Jahren, in Heidelberg den Doktorgrad und wurde dort Privatdozent. Mit 33 kam der Ruf zur Professur aus Berlin – aber schon fünf Jahre später war Henrich wieder in Heidelberg, wo er seinen Lehrstuhl 16 Jahre lang hielt, bis er an die Universität München wechselte. Dort wirkt er noch immer, obwohl er längst emeritiert ist. Noch mit 90 Jahren hält er private Seminare.

Der zweite Eindruck widerspricht dem ersten nicht, sondern ergänzt ihn. Da sitzt nicht nur ein Berufsphilosoph, der in seinem Metier Erkenntnis und Renommee sucht und eine phänomenale akademische Karriere hingelegt hat, sondern auch ein Mensch, der fragt und zweifelt und Orientierung sucht; der seine Lebenskrisen und seine einsamen Zeiten hatte. Die Philosophie ist für ihn nicht nur intellektuelle Übung, sondern auch Haltgeberin. »Sie ist nicht, was mich leben lässt«, sagt er, »aber ohne sie ginge es nicht.«

Begriff 

Subjektivität

Das philosophische Denken Henrichs dreht sich um den Begriff der Subjektivität: darum, dass Menschen keine Objekte, sondern wahrnehmende, erlebende, denkende, bewusste Subjekte sind. Manche Philosophen halten den Begriff der Subjektivität für irreführend, sie reden allenfalls von Intentionalität oder Bewusstsein. Für Henrich hingegen ist Subjektivität der Angelpunkt zum Verständnis von Mensch und Welt – und ein Rätsel, das wir nie bis auf den Grund ausleuchten werden können. Was tun wir, wenn wir »ich« sagen? Wie erlangen wir Wissen von uns selbst? Das sind zwei der großen Fragen, die Henrich bewegen.

HOHE LUFT: Herr Professor Henrich, das große Thema Ihres Denkens ist, wie Menschen Wissen von sich selbst erlangen. Worum geht es dabei?

Dieter Henrich: Wir denken und leben in einer Zentralperspektive: Was um uns herum statthat, hat…

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Nr. 1/2018