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Politik

Sicherheit und Wut

Die nächste Regierung steht vor großen Herausforderungen: für bessere Schulen und Universitäten, bei dem digitalen Umbau der Wirtschaft und der Reform Europas.

NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL
von
Martin Knobbe
,
Armin Mahler
,
Francis Mohammady
,
Marcel Rosenbach
,
Michael Sauga
,
Cornelia Schmergal
,
Christoph Schult
,
Gerald Traufetter
und
Markus Verbeet
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Politik

Es war eine gute Nachricht für die "Tatort"-Gemeinde oder die Fans der Sat.1-Kochshow "Promis am Löffel". Wäre es nach SPD-Chef Martin Schulz gegangen, hätten die Programme dieses Sonntags einem zweiten TV-Duell mit Angela Merkel weichen müssen; so hatte es der Kanzlerkandidat in einem Brief gefordert, den er vergangenen Dienstag ans Kanzleramt geschickt hatte. Per Boten, damit das Schreiben auch ankommt.

Doch die CDU-Zentrale lehnte den Vorschlag ab. Es sei doch "alles gesagt", hieß es aus dem Konrad-Adenauer-Haus. Anders als Schulz, der die erste Fernsehdebatte im SPIEGEL-Gespräch als "Erpressung des Kanzleramts" kritisiert, empfanden Merkels Helfer das Duell, das eher ein Duett war, offenbar als gelungen – verbreitete es doch jenen politischen Aggregatzustand, der Merkel von jeher der liebste ist: Langeweile.

Eine gute Woche vor der Bundestagswahl wächst in der Republik die Enttäuschung über einen misslungenen Wahlkampf. Nicht nur weil es einem politischen Wunder gleichkäme, wenn Schulz den großen Umfragerückstand auf Merkel noch aufholen sollte. Sondern auch wegen der seltsam labilen Stimmungslage im Volk, die vom Wunsch nach Sicherheit und Ruhe geprägt ist, aber auch von einem nie gekannten Ausmaß an Wut, wie sie sich im Internet oder bei Merkels Auftritten in Ostdeutschland austobt. Von einem "kippeligen" und "emotionalen" Klima spricht der Kölner Psychologe Stephan Grünewald, die Republik werde mal als "verwahrlostes Land" und mal "als Insel des Wohlstands" wahrgenommen.

Nicht zu Unrecht. Auf der einen Seite ist Deutschland im zwölften Jahr der Kanzlerschaft Merkels ein reiches Land, das mit seiner blühenden Exportindustrie, seiner niedrigen Arbeitslosigkeit und den gut gefüllten öffentlichen Kassen so gut dasteht wie kaum eine andere Industrienation.

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SPD-Wahlveranstaltung in Göttingen: Chancen nahe null

Auf der anderen Seite sind viele Deutsche noch immer verstört von der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Sie fürchten, dass Staatschefs wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und Donald Trump den Frieden gefährden könnten. Und sie sorgen sich, dass die ökonomische Basis des Landes bröckeln könnte: durch die Digitalisierung, den Klimawandel, die älter werdende Bevölkerung, die soziale Spaltung im Land. Die meisten Deutschen sagen, dass es ihnen materiell so gut gehe wie lange nicht. Zugleich stufen sie die politische und wirtschaftliche Lage als "bedrohlich" ein.

So kommt es, dass viele Bürger ratlos wie schon lange nicht vor ihrem Wahlzettel sitzen. Sie wollen eine politische Veränderung, so hat etwa das Institut für Demoskopie in Allensbach ermittelt, aber sie sind sich unsicher, wie weit sie reichen soll.

Es ist ein gespaltenes Bild, das so ähnlich auch das Hausblatt der internationalen Finanzelite zeichnet, der Londoner "Economist". Deutschland sei unter Merkels Kanzlerschaft "ganz gut gefahren", urteilt das Blatt. Zugleich habe ihre Regierung "nicht genug getan, um Deutschland auf die Zukunft vorzubereiten". Vieles wurde liegen gelassen, vieles vertagt, manches schöngefärbt.

Ein Neuanfang sei fällig, glaubt das britische Magazin, und das glauben auch viele Deutsche. An Merkel führt wahrscheinlich kein Weg vorbei, aber möglicherweise regiert sie bald mit anderen Partnern. Und noch etwas steht fest: Die nächste Regierung, ganz gleich, wer sie stellt, steht vor enormen Herausforderungen.

Die digitale Zukunft

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Nr. 38/2017