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Gesellschaft

Macht keinen Aufstand!

Vor 100 Jahren ging das alte Russland in der Oktoberrevolution unter. Die Führung um Wladimir Putin weiß nicht, wie sie den Jahrestag feiern soll. Weil sie auch heute Angst vor Revolutionen hat.

VICTOR YULIEV / DER SPIEGEL
von
Christian Esch
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Gesellschaft

Auch Revolutionäre haben Augenblicke des Zweifelns. Nehmen wir Wladimir Uljanow – Kampfname: Lenin –, einen russischen Emigranten im Zürich des Ersten Weltkriegs. Wir Alten, sagt er 1917 in einem Vortrag vor Schweizer Sozialisten, werden die kommende Revolution vielleicht nicht erleben. Aber ihr jungen Schweizer, ihr werdet kämpfen und siegen! Es ist Januar. Uljanow-Lenin weiß noch nicht, dass sieben Wochen später der Zar stürzt und dass er selbst an dessen Stelle tritt, noch bevor das Jahr herum ist.

Oder nehmen wir Sergej Udalzow, der 100 Jahre später in einem Moskauer Café sitzt, im Outfit des Berufsrevolutionärs: schwarze Jacke, kahler Schädel. Udalzow ist Anführer der radikalen Linken, schon sein Urgroßvater war Lenins Weggefährte. Mit Alexej Nawalny hat er die Proteste gegen Wladimir Putins Rückkehr in den Kreml 2012 angeführt, viereinhalb Jahre hat er deshalb unter Hausarrest und in Haft zugebracht. Die Leute seien müde, sagt er, die Politik sei ratlos, ein Machtwechsel wahrscheinlich. Nur: Wenn das hier alles zusammenkracht, wer wird profitieren? Wird es nicht eher die Rechte sein als die Linke?

Russland feiert in diesem Jahr den Jahrestag der Russischen Revolution. Im März vor 100 Jahren stürzte die Zarenmonarchie, im November vor 100 Jahren ergriff Wladimir Lenin mit seinen Anhängern die Macht. Es waren sozusagen zwei Revolutionen in einer. Und der 7. November 1917 – nach altem Kalender der 25. Oktober – ging in die Geschichte ein als Oktoberrevolution, als Geburtsstunde des ersten sozialistischen Staates, als Triumph einer neuen Ordnung.

"Feiern" ist bei diesem Jahrestag der falsche Ausdruck, was gibt es schon zu feiern bei so viel Blutvergießen, man müsste besser sagen: Russland begeht den Jahrestag. Aber auch das stimmt nicht ganz. Das folgenreichste Ereignis des 20. Jahrhunderts, das die ganze Welt verändert hat, wird in Russland nämlich kaum beachtet. Russlands Führung ist damit regelrecht unwohl. Sie hat eine Revolutionsphobie.

Zwar liegt Lenin bis heute in Moskau in einem Glassarg aufgebahrt – ein kleiner Mann im Anzug mit rotem Bart, die wächserne rechte Hand zur Faust geballt. Aber in Wahrheit hat der Kreml mit der Revolution ein Problem. Niemand, so sagte Wladimir Putin im Dezember zum Gedenkjahr, dürfe "aus politischen Motiven" die Tragödie von einst ausnutzen oder "Zwist und Hass, Verletzungen und Verbitterung der Vergangenheit in die Gegenwart ziehen". Es klang wie eine Warnung: Finger weg von der Geschichte!

Das Seltsame ist nur: Das Thema Revolution ist in Putins Russland zugleich dauernd präsent. Es ist wie ein Gespenst, das der Kreml braucht und zugleich fürchtet. Seitdem ein friedlicher Machtwechsel durch Wahlen gar nicht mehr vorstellbar ist, wittert die Führung in jeder Kundgebung gegen Putin den Beginn eines gewaltsamen Umsturzes, angetrieben von Feinden im Ausland. Sie tut das nicht, weil sie tatsächlich Angst haben müsste, dazu ist die Opposition zu schwach. Sondern weil Putins Herrschaft darauf beruht, dass Protest gar nicht erst sichtbar werden darf. Außerdem ist der Kreml gewarnt von prowestlichen Umstürzen in der Nachbarschaft: von der Orangen Revolution in Kiew 2004 bis zum Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch 2014.

"Angst hat große Augen", sagt ein russisches Sprichwort. Wer ängstlich blickt, für den sieht jeder Straßenprotest aus wie eine Farbrevolution und jede Farbrevolution wie 1917. "Wir sind das Gegenteil von Revolution", das ist der oberste Glaubenssatz des Putinismus. Damit steht ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der Sowjetunion die Revolution paradoxerweise wieder im Mittelpunkt des Denkens der russischen Führung.

Das macht das Gedenkjahr so…

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Nr. 44/2017