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Gesellschaft

Karams erster Schultag

In Gaza hat die Schule begonnen, aber diesmal fehlen die Hilfsgelder der USA. Das ist Teil von Donald Trumps neuer Nahostpolitik. Schüler und Lehrer werden zu Teilnehmern eines großen Menschenexperiments.

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
von
Alexander Osang
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Gesellschaft

Es war ein langer Sommer für Karam Shahin. Er hatte über drei Monate Ferien. Die Schule endete ein paar Tage früher in diesem Jahr, Mitte Mai, wegen des 70. Jahrestags der Nakba, des Tages der Vertreibung des palästinensischen Volkes, und wegen der Eröffnung der amerikanischen Botschaft in Jerusalem. So hundertprozentig verstand Karam nicht, was das alles mit ihm zu tun hatte. Er ist sieben Jahre alt. Er war auf ein paar Demonstrationen am Grenzzaun zu Israel, die an jedem Freitag stattfinden. Sie nennen es: Marsch der Rückkehr. Sein Vater hat ihm eine palästinensische Fahne gegeben, die hat er getragen. Er hat den Rauch gesehen und die Schüsse gehört. Er hat mit der Fahne gewinkt. Er lacht, wenn er das erzählt.

Weiter vorn, näher am Zaun, sind jede Menge Menschen gestorben.

Als die Toten begraben waren, ging Karam ins Sommercamp. Im Meer badeten sie nicht, weil dort die Abwässer Gazas ungefiltert hineinfließen. Man bekommt Ausschläge und Atemnot. Schwer zu sagen, ob man die Krabben essen sollte, die die Fischer auf der Straße anbieten. Aber Krabben kann sich Shahins Familie ohnehin nicht leisten.

Karam hat vier Geschwister. Die beiden ältesten sind schwerbehindert und hängen seit drei Jahren an Maschinen in ägyptischen Krankenhäusern. Ein Bruder, der ist elf, und eine Schwester, die ist zehn. Er hat keine Erinnerungen an sie. Dann hat er noch zwei jüngere, gesunde Geschwister.

Vor fünf Wochen hat Karams Vater einen Brief seines Arbeitgebers bekommen, in dem ihm Kurzarbeit ankündigt wurde oder Entlassung. Karams Vater heißt Ahmad Shahin und ist Psychologe. Seit 13 Jahren arbeitet er für die UNRWA, die Hilfsorganisation der Uno für palästinensische Flüchtlinge, als Mental Coach an einer Schule. Etwa tausend Schulpsychologen der UNRWA bekamen Ende Juli einen Brief, in dem ihnen ihre Entlassung, der Vorruhestand oder eine Teilzeitarbeit mitgeteilt wurde.

Vater und Sohn sind in die ganz große Weltpolitik geraten. Ihr Leben ist Teil des Plans geworden, mit dem der amerikanische Präsident den Konflikt im Nahen Osten lösen will. Und weil niemand weiß, wie dieser Plan genau aussieht, am wenigsten wohl der amerikanische Präsident selbst, fühlen sich die beiden, als nähmen sie an einem Experiment teil. Einem Menschenexperiment.

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Nr. 37/2018