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Politik

Im Bunker

Schon zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres hat Innenminister Horst Seehofer die Große Koalition an den Rand des Abgrunds geführt. Über einen Mann, der sich fast alles zutraute und nun an seiner schwierigsten Aufgabe zerbricht.

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL
von
Melanie Amann
,
Annette Bruhns
,
Anna Clauß
,
Marc Hujer
,
Veit Medick
,
Ralf Neukirch
und
René Pfister
Lesezeit 17 Min
Politik

Die Stimmung ist schon leicht morbide, als Seehofer eintrifft. Auf dem Erdinger Festplatz stehen ein stillgelegter Autoscooter, verlassene Kirmesbuden und das Gerippe einer Achterbahn. Man könnte hier einen Film drehen, der die Welt menschenleer zeigt, verödet nach einer schlimmen Katastrophe.

Nur aus dem großen Zelt schimmert Licht, dort soll Seehofer an diesem Montagabend reden. Es sind so viele Dinge passiert, zu denen der Innenminister etwas sagen könnte: die Neonazis, die grölend durch Köthen marschiert sind, die rechten Aufmärsche in Chemnitz, die kein Ende nehmen, ein Verfassungsschutzpräsident, der so verantwortungslos mit der Wahrheit hantiert.

Aber Seehofer redet erst mal über sich, über die Mühen des Amtes und die Widrigkeiten der Hauptstadt. Mit schweren Schritten erklimmt er die drei Treppenstufen zur Bühne, dann faltet er sein Manuskript in Zeitlupe auseinander, das gibt ihm ein paar Sekunden, um nach der Anstrengung des Aufstiegs wieder zu Atem zu kommen.

Seehofer ist nicht als Wahlkämpfer nach Erding gekommen, das wird schnell klar, er will auch nicht über Köthen oder Chemnitz reden. Seehofer kennt im Moment im Grunde nur ein Thema, und das ist er selbst, der Minister, der von allen so ungerecht behandelt wird, wie er findet, ein Mann, der zum Extremisten erklärt wird, zum Sicherheitsrisiko, zum geistig Verwirrten: »Jetzt steht also dieser böse Herr Seehofer vor euch.«

Seehofer hatte schon immer die Neigung, sich zum Opfer dunkler Mächte zu stilisieren. Wenn es nicht lief, waren eben die Medien schuld, die Heckenschützen in München oder Angela Merkels Büchsenspanner im Kanzleramt, aber durch seine Worte zog sich immer auch eine Spur Ironie, die das Selbstmitleid erträglicher machte. Nun stellt Seehofer fest: »Wir Politiker werden nicht geliebt, ich erst recht nicht.«

Dann erzählt er von der schönsten Zeit in seinem Leben, die natürlich nicht »die Nachbarschaft zum Bundeskanzleramt« ist, sondern die Mitgliedschaft im Handballverein Ingolstadt. Dort, in seiner Jugend, habe es noch echte Kameradschaft gegeben. »Eine wunderschöne Schule fürs Leben«, sagt er, und je länger Seehofer redet, desto mehr fragt man sich, warum er überhaupt noch nach Berlin gegangen ist, mit 68, nach all den Jahren in der Politik, als Staatssekretär bei Norbert Blüm,…

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Nr. 38/2018