Lesezeit 28 Min
Gesellschaft

Du bist Mozart!

Ein penetranter Typus Eltern breitet sich aus. Mütter und Väter, die ihre Kinder für kleine Genies halten und deren Schwächen mithilfe von Anwälten, Ärzten und Psychologen bekämpfen. Report aus einem Milieu, in dem Kindheit zur Krankheit wird.

ANDREAS KLAMMT FÜR DEN SPIEGEL
von
Barbara Hardinghaus
und
Dialika Neufeld
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Gesellschaft

Der Ort, an dem sich die Ängste der Eltern bündeln, an dem all die Wut, die Liebe und der Wahn eine Aktennummer bekommen, liegt hoch über Hamburg, im 16. Stock eines Verwaltungsgebäudes. Hier ist das Büro von Andreas Gleim, 60 Jahre alt, Chefjustiziar der Hamburger Schulbehörde. Als Jurist vertritt er Schulen, die Gegner sind häufig Eltern. Er sagt: "In den letzten zehn Jahren haben sich die Fallzahlen verdoppelt."

1051-mal hat Gleims Abteilung im vergangenen Jahr eine Akte angelegt, so oft wie noch nie. Weil Eltern vor Gericht zogen, wegen Zweien, Dreien und Vieren in den Zeugnissen ihrer Kinder. Weil sie glaubten, die Schule sei nicht gut genug, um ihre Kinder zu erfolgreichen Kindern zu machen. Weil sie überzeugt waren, ihr Kind sei hochbegabt, der Lehrer habe das nur nicht erkannt.

Wenn Gleim ins Reden kommt, fallen ihm Geschichten ein, bei denen man denkt: Die Eltern sind irre.

Einmal klagte eine Familie vor Gericht gegen das Zeugnis der Tochter, einer Viertklässlerin. "Ein wunderbares Zeugnis, nur Einsen und Zweien", sagt Gleim. Aber in den Bemerkungen stand: "Du könntest dich noch mehr anstrengen im Sport." Die Eltern sind vor Gericht gezogen – nur wegen dieser Äußerung. Die Richterin hatte das persönliche Erscheinen des Mädchens angeordnet. Das saß dann mit seinen zwei Zöpfen zwischen Vater, Mutter und Anwalt. Und der Vater sagte zur Richterin: "Mit einer solchen Bemerkung im Zeugnis würde ich dieses Kind nicht in meinem Betrieb einstellen."

Gleim erzählt von einer Mutter, die klagt, weil die Schule ein Musikinstrument ersetzt haben möchte, das ihr Sohn zerstört hat.

Er spricht von einem Vater, der klagt, weil er die 60 Cent nicht bezahlen will, die die Fahrt des Sohnes von der Schule zum Schwimmunterricht kostet.

Gerade heute, sagt Gleim, sei ihm wieder so ein Fall auf den Tisch gekommen: Ein Vater zieht vor das Verwaltungsgericht, weil er, ein erwachsener Mann, unbedingt beim Klassenausflug seines Kindes dabei sein wolle. Wieder eine neue Akte.

Die Väter und Mütter, von denen Gleim erzählt, vermehren sich mit der Geschwindigkeit einer ansteckenden Krankheit. Keine Berufsgruppe, die mit Kindern zu tun hat, ist sicher vor ihnen; Erzieher kennen sie, Ärzte kennen sie, Psychologen, Busfahrer, Fußballtrainer

Sie sind beharrlich, sie geben nicht nach. Viele Schulen haben angefangen, sich zu schützen. Sie richten sogenannte Kiss & Go-Zonen ein, weil Eltern ihre Kinder sonst bis in die Klassenzimmer verfolgen und die Lehrer daran hindern, den Unterricht rechtzeitig zu beginnen. Sie schreiben Briefe, um die Eltern davon abzubringen, während der Schulstunde am Fenster zu stehen und zu winken.

Es gibt Eltern, die Ärzte drängen, ihren Kindern Therapien zu verordnen, um sie von schlechten Schulnoten zu heilen. Es gibt Eltern, die Lateinstunden nehmen, um mit ihrem Kind die Hausaufgaben machen zu können. Es gibt Eltern, die sich beschweren, wenn das behinderte Kind aus der Klasse mehr Zeit für einen Test bekommt als das eigene, gesunde – weil das dadurch ja benachteiligt werden könnte.

„Das Kind soll lieber eine Dyskalkulie haben als eine schlechte Note in Mathematik.“

Diese Eltern verschieben die Grenzen dessen, was jahrzehntelang als richtiges Maß in der Erziehung galt. Sie optimieren, wo früher gefördert wurde, sie kontrollieren, wo sie früher vertrauten, sie erobern den Raum, der früher der Kindheit vorbehalten war. Sie stellen unerfüllbare Ansprüche: sich selbst gegenüber, dem Staat gegenüber, vor allem gegenüber ihren Kindern.

Es ist kurz vor acht Uhr in Hamburg-Othmarschen, ein warmer Donnerstagmorgen, Schüler auf dem Fahrrad rollen…

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Nr. 41/2015