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Wirtschaft

Explosion des Besonderen

Was ist mit unseren Gesellschaften los? Wie lassen sich die Verwerfungen und Verunsicherungen unserer Zeit erklären? Andreas Reckwitz hat eine Antwort, und er formuliert sie mit dem Anspruch einer Gesellschaftstheorie. In unserem Interview erläutert er den fundamentalen Wandel, der sich in allen gesellschaftlichen Bereichen vollzieht. Und der Dinge und Objekte, Zeiten und Orte, Kollektive und Menschen gleichermaßen betrifft.

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von
Winfried Kretschmer
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Wirtschaft

Wird der Wandel zur postindustriellen Gesellschaft, den wir längst vollzogen glaubten, erst jetzt wirklich spürbar? Ein Soziologe sagt: Er vollzieht sich als Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen. Wir erleben den Eintritt in die Gesellschaft der Singularitäten. Das spiegelt sich in den industriellen Produkten, die keine Massenprodukte mehr sind, sondern höchst individualisierte Erzeugnisse. Und es spiegelt sich im Leben der Menschen, für die das Einzigartige, Unverwechselbare zum Lebensziel geworden ist. Offen aber bleibt, wie sich eine singularisierte Gesellschaft zusammenhalten lässt. Klar ist: Wenn nur noch das Singuläre zählt, wird die Arbeit am Allgemeinen zur zentralen Aufgabe.

Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

Herr Reckwitz, wir leben in einer Zeit großer Verunsicherung, sowohl was die politische, gesellschaftliche als auch technologische Entwicklung anbelangt. Diese Verunsicherung reicht tief hinein in die Lebensgestaltung der Menschen. Was ist los in unserer Gesellschaft? 

Die westlichen Gesellschaften erleben bereits seit mehreren Jahrzehnten, genauer seit den 1970er- und 1980er-Jahren, einen tief greifenden wirtschaftlichen, technologischen, sozialstrukturellen und kulturellen Wandel. Dies ist plakativ gesagt ein Strukturwandel von der industriellen Moderne zur Spätmoderne, die eine postindustrielle Gesellschaft und Kultur ist. Lange Zeit lief dieser Wandel ab, ohne dass ein besonderes Bewusstsein dafür existierte. Das hat sich in den letzten Jahren allerdings - nicht zuletzt durch den internationalen Aufstieg des Rechtspopulismus - geändert. Kennzeichnend für diesen Strukturwandel sind mehrere Faktoren: ein Aufstieg der Wissensökonomie und des kulturellen Kapitalismus auf Kosten der "alten" Industrien, sodass die ökonomischen Wachstumsbranchen die kulturellen und kognitiven Güter sind (daneben aber auch die sogenannten "einfachen Dienstleistungen"); die neue Technologie der Algorithmen, der Digitalität und des Internets, die ganz anders in der Alltagswelt wirkt als die alten mechanischen Techniken; eine sozialstrukturelle Polarisierung zwischen einer aufsteigenden, hoch qualifizierten neuen Mittelklasse und einer neuen Unter- und alten Mittelklasse, die sich in der sozialen und kulturellen Defensive befindet; ein Wertewandel hin zu individualistischen Selbstverwirklichungswerten; eine neue politische Konfliktlinie zwischen liberalem Kosmopolitismus und gemeinschaftsorientiertem Kommunitarismus. 

Man muss aber erkennen: Diese Ebenen hängen eng miteinander zusammen und sind durch Strukturen dessen geprägt, was…

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02.02.2018