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Gesellschaft

Müllers müssen weg

Aus Trümmern erbaut, war die Karl-Marx-Allee einst die Paradestraße der DDR. Jetzt wittern Investoren dort das große Geschäft. Und ihre Bewohner bekommen Angst vor der Zukunft

BERLINER ZEITUNG / PAULUS PONIZAK
von
Anja Reich
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Gesellschaft

Seitdem der Brief kam, rechnen Ingo und Marianne Müller jetzt manchmal aus, wie lange sie noch leben werden. Marianne Müller ist 57, Ingo Müller 63 Jahre alt. Sie hat es im Rücken, er in den Beinen, sie sind beide etwas übergewichtig, und sie rauchen, gerne gleichzeitig. Herr Müller nimmt zwei Zigaretten aus der Schachtel, Frau Müller gibt ihm das Feuerzeug. Sie sitzen auf dem Sofa ihres Wohnzimmers, er rechts, sie links. Er redet, sie hört zu. Wenn er sich aufregt, klopft sie ihm aufs Knie. Wegen des Blutdrucks. Herr Müller regt sich oft auf, seitdem der Brief kam.

Am 15. April lag er im Briefkasten, Absender: Nicolas Herrmann, Predac Immobilien Management GmbH, Karl-Marx-Allee 82. Empfänger: Marianne Müller, Karl-Marx-Allee 138. Herr Herrmann teilt der "sehr geehrten Frau Müller" mit, dass die Eigentümergesellschaft sich "nunmehr dazu entschlossen habe, die Aufteilung der Immobilie in Eigentumswohnungen vorzunehmen" und schlägt einen Besichtigungstermin vor, um die "Beschaffenheit, Ausrichtung und Lage" der Wohnung aufzunehmen.

Es ist ein Brief, wie ihn viele Berliner Mieter derzeit bekommen, und er heißt immer das Gleiche: Die Wohnung wird verkauft, vom Zeitpunkt des Verkaufs ist der Mieter zehn Jahre lang geschützt, dann kann der neue Besitzer wegen Eigenbedarfs klagen. Oft ziehen die Mieter allerdings früher aus, weil sie den Druck oder die Schikanen nicht aushalten oder eine Ablösesumme annehmen. Müllers haben Berichte darüber im Fernsehen gesehen: Vermieter stellen Gas oder Wasser ab, aus Versehen wird ein Rohr angebohrt oder ein Fenster zugenagelt. In ihrem Haus wohnen Leute, die das alles schon woanders durchgemacht haben. Herr Erdmann aus dem siebten Stock zum Beispiel kämpfte ein Jahr lang gegen die Vertreibung aus seiner Wohnung in der Gabelsberger Straße, bevor er klein beigegeben hat. Herr Rohrmann aus dem Zweiten ist vor fünf Jahren aus der Oderstraße ausgezogen, weil jeden zweiten Tag ein Makler Kaufinteressenten durch sein Schlafzimmer führte. Beide konnten ihr…

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24.06.2017