Lesezeit 7 Min
Geschichte

Ach, der Seifenfabrikant

Ein Blick auf Berlinerinnen und ihren ebenso selbstbewusst wie pragmatisch beschrittenen Weg. Was Moral sei, interpretierten sie individuell

delphinmedia / pixabay.com
von
Maritta Tkalec
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Geschichte

Auf einer sonntäglichen S-Bahnfahrt aus der Innenstadt in einen Vorort erzählte eine nach einer Tag-und-Nacht-Sause "bedudelte", aber doch überaus muntere Berlinerin dem Stadtsoziologen Siegfried Kracauer eine Geschichte aus dem wahren Leben. Sie mag #metoo-Erregte zu Empörungsschreien treiben; die junge Frau würde sich aber vermutlich totlachen, wenn man sie zum Opfer erklärte.

Die Büroangestellte plauderte über ihren Chef, einen Seifenfabrikanten, dem sie seit drei Jahren als Privatsekretärin umfassend zur Seite stand. Der Junggeselle bewundere ihre schönen dunklen Augen; beide gingen oft aus, viel tanzen, manchmal schon nachmittags ins Café, "dann kommen wir nicht mehr zurück", erzählte sie Kracauer, und im Büro "platzen die Mädchen vor Neid". Heiraten wolle sie den Mann keinesfalls, der Reichtum locke sie nicht und : "Ich bleibe meinem Bräutigam treu." Der leite ein Wäschegeschäft in Sevilla und wisse natürlich nichts von der Sache mit dem Chef.

Kracauer war entzückt über den Einblick in eine in den Zwanzigerjahren in Berlin enorm angewachsene Gruppe: die Angestellten. Hunderttausende von ihnen bevölkerten die Straßen, stellte er fest - "und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme". Die junge Frau aus dem Zug hatte auf die Frage nach ihrem Büroleben verwundert geantwortet: "Das steht doch alles in den Romanen."

Tatsächlich verbindet sich hier kühler Pragmatismus mit schönster Romantik. Sie will ein aufregendes…

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11.06.2018