Lesezeit 17 Min
Gesellschaft

Müllers müssen nicht raus

Die Mieter in der Karl-Marx-Allee haben es schriftlich: Wer vor 1994 hier wohnte, darf bis zum Lebensende bleiben. Dafür sorgt eine Klausel im Kaufvertrag. Ausgetrickst fühlen sie sich trotzdem.

BERLINER ZEITUNG / MARKUS WÄCHTER
von
Anja Reich
Lesezeit 17 Min
Gesellschaft

Im dritten Teil unserer Geschichte über die Ost-Berliner Prachtstraße geht es um den Brief eines Geschäftsführers und Unterlagen im Keller der Senatsverwaltung.

Als der Vermieter bei ihnen klingelt, sitzt Ingo Müller gerade in der Badewanne. Es ist ein Nachmittag im Oktober, der Besuch war nicht angekündigt. Zum Glück ist Marianne Müller zu Hause. Sie öffnet die Tür.

Ein Mann steht dort, jung, in heller Hose und Lederjacke, mit einem Umschlag in der Hand, Nicolas Herrmann, Geschäftsführer der Predac. Er bringe die Antwort, sagt er. Die Antwort auf ihr Schreiben. Da stehe drin, dass sie lebenslangen Mieterschutz hätten. Aber das sei ja ohnehin klar gewesen.

"Klar gewesen?", fragt Marianne Müller. "Warum haben Sie uns das denn nicht gleich gesagt?"

Sie habe gedacht, sie spinne, sagt sie später. Als habe Herrmann nicht gerade noch Briefe verschickt, in denen vom zehnjährigen Kündigungsschutz die Rede war! Als hätte ihr Mann nicht die halbe Stadt verrückt machen müssen, um herauszufinden, ob der lebenslange Schutz für sie gilt!

Sie sitzen auf ihrem Sofa im Wohnzimmer, im Fernsehen läuft Skispringen, auf dem Tisch liegt Herrmanns Brief, ein brauner Umschlag, DIN A5. Alles ist drin, ihre Änderung zum Mietvertrag aus dem Jahr 1994, die Bestätigung des Vermieters, dass diese Änderung "zu einer den Eigentümer bindenden Verpflichtung geworden ist". Und sogar noch eine Erklärung, dass das auch für alle anderen Mieter gilt, die seit 24 Jahren hier wohnen. Es ist der Moment, auf den Müllers gewartet haben. Sie haben es schwarz auf weiß. Sie können in ihrer Wohnung bleiben! Sie müssen nicht raus!

Aber irgendwie können sie sich nicht so richtig darüber freuen. Herrmanns Bemerkung ist schuld, diese Art, so zu tun, als sei alles nur ein Missverständnis gewesen, ein Kommunikationsproblem.

"Der Herrmann hat es auf die Doofe versucht", sagt Marianne Müller.

"Der wollte uns austricksen und kann es nicht zugeben", sagt ihr Mann.

Es fühlt sich so an, als wären sie zweimal betrogen worden, erst um den Mieterschutz und jetzt auch noch um ihren Sieg gegen die Predac. Und wer weiß, um was noch alles.

Die Karl-Marx-Allee ist die prächtigste Straße im Osten der Stadt, eine Magistrale breiter als die Champs-Élysées, die Häuser im sowjetischen Zuckerbäckerstil gebaut. Marianne…

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09.03.2018